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Sperrt die Kultur auf! Protestierende vor dem Théâtre de l'Odéon in Paris.
© Imago

Aufbruchstimmung der französischen Jugend: Theater besetzen statt schließen

Protest gegen den Kulturlockdown in Frankreich: Aktivisten halten Nationaltheater in Paris und Straßburg besetzt, die Kulturministerin steht unter Druck.

Der Druck auf Frankreichs Kulturministerin Roselyne Bachelot wächst weiter. Erst vor gut zwei Wochen hatte sie Testkonzerte angekündigt, um unter realistischen Bedingungen und mit wissenschaftlicher Begleitung ein Hygienekonzept für große Pop-Konzerte erproben zu können. Aber jetzt halten schon seit einer Wochen Aktivistinnen und Aktivisten das große Pariser Théâtre de l'Odéon besetzt.

Vor drei Tagen folgten zwei weitere Nationaltheater: Das Pariser Théâtre de la Colline und das Théâtre National de Strasbourg. Bereits Ende Januar hatten einige Provinztheater entgegen der Schließungsverordnung demonstrativ für eine Stunde ihre Pforten geöffnet. Jetzt ist der Protest im Herz der Kulturnation angekommen. Denn die besetzten Häuser sind Nationaltheater und gehören zu den Leuchttürmen der französischen Bühnenlandschaft.

Zentrale Häuser der Bühnenlandschaft

Über dem säulenbewehrten Eingangsbereich des stolzen Théâtre de l'Odéon im schicken 6. Pariser Arrondissement steht „Kultur geopfert“ auf einem Spruchband. Seit einer Woche campieren dort etwa 50 Aktivistinnen und Aktivisten aus der Kulturszene.

Weitere können nicht dazukommen, Polizei und Wachdienst kontrollieren die Eingänge. So versammeln sich weitere Menschen auf dem Vorplatz, Reden werden aus offenen Fenster gehalten. Medienvertreter führen ihre Interviews auf Distanz: Die Fragen stellen sie per SMS, die Antwort schallt per Megaphon aus dem Theater.

Von der Terrasse über den Säulenportal werden Gedichte rezitiert, auch das berühmte Sonett von Shakespeare, das alle Übel der Welt beklagt, und dessen letzte Strophe mit dem Vers „Und Kunst das Maul gestopft vom Apparat" beginnt. Es ist die Stunde der Poeten, nach allem was der Kultur angetan wird.

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Die Theaterbesetzer kämpfen für eine klare Öffnungsperspektive der Kultureinrichtungen, allen voran der Bühnen für Theater, Tanz und Musik. Die Besetzer fordern vor allem, dass die befristete Änderung bei der Auszahlung von Arbeitslosengeld verlängert wird, die die französische Regierung unter Macron im vergangenen Mai beschlossen hatte. Sie gilt für die vielen Zeitarbeiter im Kulturbetrieb, deren Arbeitsausfälle im Kultursektor sonst zu einem Ausfall ihrer Arbeitslosenabsicherung geführt hätte.

Die Verlängerung dieser Ausnahmeregelung ist noch nicht beschlossen. Für diese Intermittents sind Theaterschließungen und Festivalausfälle erneut eine existenzielle Bedrohung. Auch aus diesem Grund ist bei der Besetzung am Odéon die kommunistische Gewerkschaft CGT federführend.

Frankreich ist ein Land der Kultur

Aber auch der bekannte Straßenmusiker und Aktivist HK der Gruppe HK & Les Saltimbanks mischt sich unter die Gruppe der Aktivisten. „Wir treten für eine bestimmte Vorstellung der Gesellschaft ein. Frankreich ist ein Land der Kunst, der Kultur und der Gemeinschaftlichkeit, ohne die wir die Prüfung durch dieses Virus nicht bestehen werden.

Man kann sich im Schlussverkauf der Konsumtempel und den U-Bahnen dicht gedrängt aufhalten. Da hat das Leben wieder angefangen, aber nicht in der Kultur. Also an dem Orten der individuellen und kollektiven Emanzipation, wo wir Gemeinsamkeit erleben."

Geprobt wird trotz Besetzung

Trotz der Besetzung geht der Probenbetrieb weiter. Darauf nehmen die Aktivisten so gut wie möglich Rücksicht. Derzeit probt der Film- und Theaterregisseur Christophe Honoré die zunächst für die Filmleinwand geplante autobiografische Familienchronik „Le Ciel de Nantes“.

Auf eine Premiere noch in dieser bislang verlorenen Spielzeit hofft man am Odéon nicht mehr und plant eine Premiere im Herbst. In einer Reportage des Fernsehsenders TF1 solidarisiert sich Honoré mit den Besetzern und beklagt das geringe politische Gewicht der Kulturministerin bei den Entscheidungen in Frankreichs Coronakabinett unter Premier Jean Castex.

Auch in Straßburg wird jetzt besetzt

Unterstützung erfahren die Besetzer im Odéon auch von anderer Seite: Ebenfalls in Paris okkupieren Schauspielstudentinnen und Studenten seit Dienstag das Théâtre de la Colline. Sie versprachen dabei die Einhaltung der Hygienevorschriften. Direktor Wajdi Mouwad würdigt die Initiative: „Der Frühling kommt. Und mit ihm die Jugend. Sie spricht und mit ihr die Hoffnung“.

In Straßburg besetzen ebenfalls Studierende der Schauspiel-, Regie- und Bühnenbildklassen das Theater. Die Akademie ist dem Théâtre National de Strasbourg assoziiert und gilt als eine der profiliertesten Theaterschulen des Landes. Auch dort fordern die jungen Aktivisten das Ende des Theaterlockdowns, sorgen sich um ihren Berufseinstieg und um die Existenz der freien Kompanien. Und sie fordern andere Schauspielschulen zu weiteren Theaterbesetzungen auf.

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Alle drei bislang besetzten Häuser sind Nationaltheater. Das hat symbolische Bedeutung: Anders als in den vielen regional und kommunal co-finazierten Theatern ist hier das nationale Kulturministerium direkt angesprochen und damit Roselyne Bachelot. Seit Wochen versucht die Ministerin den Schulterschluss mit den gebeutelten Künstlern.

Am vergangenen Samstag überraschte sie die Besetzer des Odéon-Theaters mit einem unangekündigten Besuch. An der Seite von Intendant Stéphane Braunschweig konnte sie kein konkretes Versprechen abgeben, erklärte aber ihr Verständnis für die Belange der Besetzerinnen und Besetzen. Am Mittwoch dagegen verurteilte sie die Theaterbesetzungen in einer aktuellen Fragestunde im französischen Abgeordnetenhaus als „unnütz“ und „gefährlich“.

Viele Franzosen sind impfunwillig

Der Straßburger Intendant Stanislas Nordey hatte vor Wochen parallel zu den Aktionen in der Kulturszene einen von 200 Künstlerinnen unterzeichneten Impfaufruf gestartet. Er reagierte damit auch auf die Ergebnisse einer statistischen Erhebung.

Diese hatte gezeigt, dass 58 Prozent der Franzosen impfunwillig sind. „Wenn wir aus der Sackgasse heraus kommen und nicht noch ein weiteres Jahr geschlossen bleiben wollen, müssen wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen.“ Die Kulturszene will das Ende des Lockdowns und sie will der Politik kein Argument lassen, ihn noch weiter zu verlängern. Eberhard Spreng

Eberhard Spreng

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