Zwischen Euphorie und Angst: So feiert New York den Rückkehr in die Normalität
Die Touristen sind zurück, in den Clubs wird Jazz gespielt, auch die Theater öffnen wieder. Aber New York fürchtet die nächste Virus-Welle.
Kenntnisreiches Klatschen, verzückte Laute höchster Zustimmung. 80 Leute in Wallung. Der kleine Jazzclub 55 in der Christopher Street im West Village brummt. Jeden Abend bietet die 1919 als Speak Easy gegründete, auch während der Prohibition weitergeführte Musikkneipe Live-Jazz. Von Solo über Trio bis Big Band, Besitzer Scott Ellard trommelt hier nationale Größen wie den Gitarristen Mike Stern und internationale wie den israelischen Drummer Dan Pugach zusammen.
Für 20 Dollar Eintritt und zwei Drinks Minimum. Sieben Tage lang. Als hätte es nie eine Pandemie gegeben. Am Tresen und an den kleinen Tischen herrscht keine Maskenpflicht mehr. Das Personal und die meisten, die hier einkehren, Anwohner und Zugereiste bunt gemischt, sind ohnehin durchgeimpft.
Längst hat das kleine 55 großen Jazzclubs den Rang abgelaufen. Das international viel bekanntere Village Vanguard auf der Seventh Avenue South, ebenfalls im West Village, ist noch nicht wieder zu Live-Gigs zurückgekehrt, sondern bietet den akustischen Gitarristen Bill Frisell auf Zoom-Abruf.
Auch gleich nebenan auf der Christopher Street, im legendären Stonewall Inn, wo 1969 die schwullesbische Revolte ihren Ausgangspunkt nahm, ist es am Wochenende rappelvoll. Der Christopher Street Day war diesen Sommer zwar eine kleine Veranstaltung der LGBTQ-Community, verglichen mit den gigantischen Paraden der Vor-Corona-Jahre. Aber er fand immerhin statt rund um die Straße, die ihm den Namen gab. Ein kleiner, den Veteranen des Aufstands gewidmeter Park ist vor fünf Jahren schräg gegenüber entstanden.
Da sitzen jetzt zwischen Gipsfiguren und Regenbogenfahnen Latinas beim Lunch und einige aus dem wachsenden Heer der Obdachlosen ruhen sich auf Bänken aus. Sonst campieren viele von den über 50 000 Menschen ohne ein Dach über dem Kopf in und vor den U-Bahnhöfen, wie vor 40 Jahren auf dem Höhepunkt der homeless crisis. Die U-Bahnen rattern, grundgereinigt und desinfiziert, so sauber und klinisch rein wie nie durch die Stadt.
Bekiffte Jugendliche und staunende Touristen
Das Stonewall Inn ist mehr oder weniger ein Touristenschuppen mit Programmen wie der „Drag Extravaganza“, die Zugereiste aus dem Mittelwesten und die vornehmlich zur Inanspruchnahme der kostenlosen Covid19-Impfungen eingereisten Lateinamerikaner besonders erfreuen. Und die Touristen, sie kommen. Aus Mexiko und Kolumbien und aus dem Mutterland USA, solange über Europa ein Einreisestopp verhängt ist.
Staunend schieben sie sich durch die Straßen. Wenn die Jugend der Stadt sich spät nachts bis zur neuerdings verhängten Sperrstunde bekifft und angetrunken im Washington Square Park auf Rollerskates oder bei spontanen Jam Sessions präsentiert, schauen sie irritiert weg.
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Die Restaurants im Einzugsbereich der Touristenströme sind wieder gut gefüllt, vor allem die während Corona entstandenen, zusammengezimmerten Vordächer auf der Straße. Schon werden diese Hütten allerorts dingfest und schöner gemacht, seit klar ist, dass sie noch mindestens ein Jahr lang stehenbleiben dürfen. Die Restaurant-Gemeinschaft der Italiener, Inder, Koreaner, Japaner, Spanier will schließlich nicht umsonst durchgehalten haben, als die Platzzahl draußen auf 25 Prozent begrenzt war und drinnen gar nichts ging. Die Preise sind jetzt allerdings hochgegangen, um die 30 Prozent. Auch in die Geschäfte kehrt das Verkaufsleben zurück.
Immer weniger „Laden zu vermieten“-Schilder löchern die Boulevards. Wo früher gute Geschäfte gemacht wurden, dahin kehren auch gute Geschäfte zurück, glaubt der Schriftsteller Paul Auster. Darum sorge er sich nicht. Auch seine Kollegin Sigrid Nunez begrüßt die Rückkehr zur Normalität des Großstadtlebens. Nur wie früher nachts von einem der vielen wieder erwachten Kulturereignisse die Subway nach Hause nehmen, das käme ihr nicht in den Sinn.
Das große Problem mit Schusswaffengewalt
Denn da ist diese Zunahme von Schusswaffengewalt um 150 Prozent. Darum sorgen sich in New York City derzeit alle. Täglich sterben inzwischen mehr Menschen bei bewaffneten Überfällen als an Corona. Schon ist gun violence als neues Nummer-Eins-Gesundheitsrisiko ausgerufen. Der demokratische Gouverneur des Bundesstaates New York, Andrew Cuomo, hat den „Katastrophen-Notstand“ erklärt und scharfe Gesetze zur Eindämmung der Waffengewalt erlassen.
Zusätzliche Präventionsmaßnahmen in besonders betroffenen, meist armen afroamerikanischen Vierteln sollen helfen, das Abgleiten Jugendlicher in die Kriminalität zu verhindern. Dafür setzt sich auch der demokratische Bürgermeisterkandidat Eric Adams ein. Der schwarze Ex-Cop dürfte im November die Wahlen gewinnen. Curtis Sliwa, der als Gründer der Stadtpatrouillen-Organisation „Guardian Angels“ seit den 80er Jahren als „Mr. Clean“ gilt, tritt für die Republikaner an. Ihm werden kaum Chancen eingeräumt.
In einem ersten Modellversuch in Central Brooklyn sollen jetzt mit bundesstaatlicher Unterstützung mehr als 500 neue Jobs geschaffen werden. Als erstes sofort in den Sommercamps. Zur Krisenintervention vor Ort zusammengeschlossen haben sich vornehmlich Pfarrer, Sozialarbeiter und Psychologen. Diese schnelle Eingreiftruppe aus dem Umfeld der schwarzen Kirchen nennt sich „God Squad“.
Gewaltkriminalität in unterversorgten Communities gab es schon immer. Doch jetzt schwappt sie nach weitgehend bewältigter Coronakrise über in die U-Bahnen und auf den Broadway. Mehrere Drive-by-Shootings haben sich am Times Square ereignet, wo das Herz der Showbiz-Metropole schlägt und bald schon wieder Touristen flanieren und einkehren sollen. Spätestens, wenn ab Mitte September die großen Broadway-Shows wie „Hamilton“, das am längsten laufende Musical „Cabaret“ oder die Uraufführung des Stücks „Thoughts of a Colored Man“, eine von sieben Neuproduktionen schwarzer Dramatiker, an den Start gehen.
„Unsicher“ darf es dann dort nicht mehr sein, da sind sich alle einig, die das Sagen haben und Touristen mit millionenschweren „I love NY“-Kampagnen zurückholen wollen. Sie müssen darauf setzen, dass Investoren und Geschäftsleute, die vor Corona nach Florida oder in die Hamptons und gleich nach Hawaii geflohen sind, zurückkehren. Insgesamt haben 300 000, meist gut betuchte New Yorker die Stadt auf dem Höhepunkt der Pandemie verlassen, als es täglich bis zu 800 Tote zu beklagen gab.
Der Jazz lebt auf
Kleinere Theater am Off-Off-Broadway sind längst wieder zu einer gewissen Normalität zurückgekehrt. Im East Village von Manhattan sorgen die Institutionen La Mama, das Public Theater mit Shakespeare-Stücken im Park und das Theater for the New City für lange vermisste Live-Erlebnisse. Letzteres kehrt ab Ende Juli mit seiner Sommertour auch wieder umsonst auf die Straßen, Spielplätze und in die Parks zurück. „Critical Care, or Rehearsals for a Nurse“ heißt die hitverdächtige Slapstick-Musical-Produktion von TNC-Gründerin Christel Field um Covid19, Pflegeheime, Krankenversicherung und Trump.
Sie macht seit 1968 politisches Eingreif-Theater, mal mit höchsten Auszeichnungen, darunter 43 Obie-Awards und einem Pulitzer Preis für Drama, dann wieder am Hungertuch nagend. Da konnten sie anderthalb Jahre Pandemie nicht ernsthaft aus der Bahn werfen. Ihr neues Stück soll allen versichern, dass die Pandemie endet und gemeinsames Überleben in Sicht ist.
Die großen Museen, wie das Metropolitan Museum of Art, das Museum of Modern Art und das Whitney, haben ebenfalls wieder ihre Pforten geöffnet. Sie bewähren sich als sichere Orte zum Verweilen und zur Weiterbildung. Durch die staunenswerten Weltkulturen-Schauen im MET drängeln sich am Wochenende längst wieder Zehntausende. Alle mit Maske.
Und der Jazz, er lebt nicht nur im West Village wieder auf. Die Organisation Jazzmobile bringt seit 1964 hochkarätigen Jazz kostenlos nach Harlem in den Marcus Garvey Park, an den Grant’s Tomb am Riverside Drive und auf andere Bühnen. Beim Tribut zum 100. Geburtstag des Jazzmobile-Gründers Billy Taylor erbebte die „Restart“-Bühne im Damrosch Park des Lincoln Centers. Taylors frühere Trio-Musiker, Schlagzeuger Winard Harper und Bassist Chip Jackson verbündeten sich mit Pianist Cyrus Chestnut, Trompeter Jon Faddis, Saxophonist Antonio Hart und Pianist Aaron Diehl zu einem wahren All Star Ensemble. Und das umsonst. So kann und so wird es in diesem heißen Sommer weitergehen, da ist sich Jazzmobile-Organisatorin Robin Bell-Stevens ganz sicher. Bis in den Herbst hinein hat sie längst hochkarätigen Jazz umsonst und draußen geplant.
Ute Büsing
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