Fotobuch und Ausstellung: Schönheit mit Filter
Der Potsdamer Fotograf Göran Gnaudschun zeigt ungewöhnliche Porträts und Ansichten aus der italienischen Hauptstadt Rom.
Fünf Sekunden am Straßenrand oder auch zehn Minuten, dann hatte er, was er wollte: ein Porträt einer flüchtigen Begegnung, die ihn, den Fotografen, für einen Moment in einen Menschen blicken ließ. Manchmal wusste Göran Gnaudschun von der Person nur den Vornamen, manchmal etwas mehr, aber dann ging man auseinander.
Von dem Fotomoment blieb ein beseeltes Bild, das in seiner Rauheit, die Eile und Zufall mit sich brachten, dem Betrachter ermöglicht, sich anzuheften. Man muss hinsehen und verweilen.
Gnaudschun war Stipendiat in der Villa Massimo
In seinem neuen Projekt - ein Buch und eine Ausstellung - zeigt Gnaudschun Fotos von Menschen aus Rom. Schnelle Porträts von Passanten, Bewohner am Stadtrand, jenseits der touristischen Altstadt. Das Projekt ist zu ihm gekommen, er hat es nicht gesucht. 2016/2017 war Gnaudschun Stipendiat in der Villa Massimo.
Ein Glücksfall, acht mal acht mal acht Meter maß sein Atelier, es sei ein wunderbares Arbeiten gewesen. Er arbeitete damals noch an seinem vorherigen Buch „Wüstungen“ über an der innerdeutschen Grenze verschwundene Siedlungen. Für Gnaudschun, in Ostdeutschland aufgewachsen, eine berührende Thematik.
Es zieht ihn raus aus der Stadt
„Dann saß ich da in Rom und beschäftigte mich mit Orten, die es nicht mehr gab, und draußen pulsierte das Leben“, sagt er. „Irgendwann musste ich raus ins Leben und auf Entdeckung gehen.“ Er beginnt mit Museumsbesuchen und fährt mit dem Fahrrad quer durch die Stadt, aus der Enge der Innenstadt heraus an den Stadtrand. Irgendwann kamen Brachen, Wiesen, Landwirtschaft – und plötzlich dann doch wieder Hochhäuser, die ärmeren Vorstädte, vor allem im Osten von Rom.
Immer wieder zieht es ihn dorthin und immer mehr will er wissen über die Architektur und Zusammenhänge. Das Klima, das andere Licht. Das sei nicht nur Gerede, das Licht sei tatsächlich anders als hier im Norden. „Saharasand in den Wolkenschichten und die Luftfeuchtigkeit aufgrund der Meeresnähe wirken wie ein warmer, gelber Filter.“
Ein anderes Rom
Vor allem interessieren ihn mehr und mehr die Menschen, die hier leben. Es ist gut, dass er Zeit hat – neun Monate dauert der Aufenthalt als Stipendiat. Über vielerlei Kontakte kann er Menschen treffen, mit denen er sonst nie etwas zu tun gehabt hätte. Rom sei hier ganz anders als die Stadt, die man als Tourist serviert bekommt. „Die Stadt ist so vielschichtig, nicht nur Antike und Renaissance. Hier gibt es auch die Architektur der Moderne, der 50er-Jahre, des Faschismus. Und heute viele besetzte Häuser.“ Er studiert Stadtpläne, wühlt in Archiven, beschäftigt sich mit Straßennamen.
„Ich wildere gerne in anderen Gefilden“, sagt er über seine Arbeitsweise. Nie ist er nur der handwerkliche Fotograf, geschichtliche und politische Hintergründe fließen stets in seine Arbeit ein. Dieses Mal hat er sich außerdem sogenannte Schwarz-Pläne, Stadtpläne, in denen nur die Gebäude verzeichnet sind, angesehen und als Aquarell kopiert.
Die schwarzen Muster erscheinen wie eine archaisch-abstrakte, durchaus ästhetische Kunstform. Auch diese hat er den Fotos anbei gestellt: Zeugnisse der Besiedlung, die, derart reduziert, ganz unterschiedliche Schlüsse und Deutungen zulassen.
Und doch kann er sich mit den Fotografien am besten mitteilen – sie sind seine Sprache, sein Material. Es begeistert ihn, was er in Rom entdeckt: In den Menschen der heutigen Hochhaussiedlungen am Standrand sieht er Gesichter, die vor Hunderten Jahren Botticelli und Caravaggio malten. „Ich sage den Menschen beim Fotografieren immer, dass sie nicht lachen sollen.“
Gnaudschun entdeckt in den Porträtierten das Einzigartige
Die vom plakativen Lachen befreiten Blicke scheinen ernst, mal mit Sorgen behaftet, mal mit leiser Zufriedenheit, mal fragend, traurig, rätselhaft oder kämpferisch. Irgendetwas Besonderes wohne den Menschen dort inne, vielleicht ein anderes Körpergefühl, sagt er. Dieses Bewusstsein von Schönheit, und sei es nur für den Moment. „Wer in Rom in die U-Bahn einsteigt, wird von allen erstmal angeschaut und gemustert, das ist einfach so.“
Neben den unterschiedlichsten Porträts – Jugendliche, alte Menschen, Väter mit Kindern, eine Pizzabäckerin – zeigt Gnaudschun die Umgebung. Hochhaussiedlungen, Tankstellen, Sportplätze, Straßenfluchten oder grünes Land. Ein Teilstück der antiken Via Prenestina mit originalem Kopfsteinpflaster, das im Gewerbegebiet endet.
Hier ist der Fotograf nüchterner Protokollant. Er sagt, es habe ihn einfach immer weiter getrieben. „Alles ist so unglaublich vielschichtig. Du denkst, du hast die Stadt kapiert, und dann gibt es immer wieder Neues.“
Der Abstand ist ihm wichtig
Bei aller Leidenschaft möchte er beim Fotografieren dennoch ein Maß an Abstand behalten. „Ich fotografiere mit heißem Herzen, aber ich möchte nicht zu nah an den Menschen rankommen.“ Den Bildern merkt man das an. Der Fotograf scheint eine innige Nähe aufgebaut zu haben, die er dann wieder versteckt, als müsse er den Menschen im Bild schützen. „Ich zeige die Oberfläche, alles andere legt der Betrachter hinein.“
Der Titel „Are you happy?“ sei ihm erst während des Arbeitens eingefallen, er habe plötzlich im Raum gestanden. Aber nie habe er den Protagonisten diese Frage gestellt. „Es ist eine unverschämte Frage“, sagt Gnaudschun. „Sie impliziert, dass man nicht glücklich sein könnte.“ Die Frage nach dem Glücklich-Sein könne sich der Betrachter natürlich auch selbst stellen. Für ihn sei Glück, irgendwo zu Hause zu sein, mit sich im Reinen zu sein.
Das Unbehaust-Sein ist ein roter Faden
Das neue Thema lässt sich als Fortsetzung vorheriger Projekte lesen. 2014 fotografierte Gnaudschun Jugendliche der Obdachlosenszene am Berliner Alexanderplatz. Dann „Wüstungen“. Jetzt römische Stadtrandsiedlungen. „Es geht immer um Behausungen – oder um das Unbehaust-Sein. Wo findet man Heimat und wo nicht“, sagt Gnaudschun. „Heimat ist so ein belegter Begriff, aber er ist wichtig und wir sollten ihn nicht der AfD überlassen.“ Der Titel „Are you happy?“ passt ebenso zum Potsdamer Italien-Jahr. Es zeigt Aspekte, die im gegenwärtigen Italientaumel um Kunst und Architektur wenig berücksichtigt sind.
Bis zum 26. Oktober sind die Fotografien in der Berliner Galerie Poll zu sehen, im Oktober erscheint das Buch. Wer das Buchprojekt mit einer Spende unterstützen möchte, erhält eine Vorzugsausgabe samt Kunstdruck in limitierter Ausgabe.
Galerie Poll, Gipsstraße 3, Berlin-Mitte, Dienstag bis Samstag 12 bis 18 Uhr