Berliner Lektionen: Raoul Schrott: Alle Heiligen
Der österreichische Dichter Raoul Schrott hatte bei den Berliner Lektionen im Renaissance-Theater ein diffiziles Thema mitgebracht: Einen Streifzug durch die Politik des Heiligen.
Das Heilige ist noch immer, was es einmal war: ein von Menschen geschaffenes Mysterium, das Physischem metaphysische Bedeutung verleiht. So ließe sich die beruhigende Seite dessen zusammenfassen, was der österreichische Dichter Raoul Schrott im Renaissance-Theater vortrug. Im Rahmen der Berliner Lektionen als „poeta doctus“, als gelehrter Dichter vorgestellt, verhehlte Schrott denn auch nicht, dass er „ein diffiziles Thema mitgebracht“ habe, einen Streifzug durch die Politik des Heiligen.
Das Beunruhigende dieses Streifzugs: Während die christlichen Religionen in Mitteleuropa an Bedeutung verlieren, wandert das Sakrale aus in andere Sphären.
Ob sich Fahnen zu Symbolen einer Nation wandeln, ob Schriftsteller durch die Zeremonie der Nobelpreisverleihung in den Kreis der Unsterblichen aufgenommen werden, ob Stars und Starlets durch Paparazzi einen Schein des Göttlichen erhalten – in den verschiedenen Zusammenhängen würden Dinge und Personen dem profanen Gebrauch entzogen und zu Manifestationen des Heiligen erklärt. Verklärt und in die Ferne gerückt, spiegelten sie unsere Vorstellung von Vollkommenheit wider. „Was den Figuren des Heiligen ihre Anziehungskraft und Macht verleiht, ist das kollektiv Menschliche der Projektionen auf sie“, so Schrott.
Dabei ist die Politik des Heiligen zunächst eine Praxis der Grenzziehung: Sie trennt den heiligen vom profanen Raum, das Reine vom Unreinen und bestimmt den Nabel der Welt: im antiken Griechenland das Orakel von Delphi, in Rom eine Grube, die mit Opfergaben gefüllt wurde. In diesem Zentrum steht eine numinose Macht, die dem Heiligen seine gesetzgebende und sinnstiftende Potenz verleiht. Alle Geopolitik beruht darauf, wenn etwa die Geschichte des Westens gemeinhin mit dem griechischen Abendland beginnt, dessen Hausheiliger Homer und dessen Demarkationslinie der Bosporus ist, hinter dem das Unreine beginnt. Selbst der Gegensatz zwischen Kultur und Barbarei verdanke sich, so Schrott, einer Grenzziehung des Heiligen. Dabei gehe es eher darum, beides als Teil der menschlichen Natur zu begreifen. Wenn indes die grenzziehende Politik des Heiligen selbst grenzenlos scheint, zeigt das vor allem eines: Die Übergänge zwischen profanem und sakralem Raum scheinen fließender und ein „Christus aus Massivbeton“ möglich geworden zu sein. Zumindest im Gedicht von Raoul Schrott mit dem Titel „Über das Heilige III“.
Thomas Wegmann