Umgang mit dem Mord an den Juden: Popkultur vs Geschichte
Alvin Rosenfeld stellt in seinem Buch die These von einem Überdruss am Holocaust auf. Die ist wenig überzeugend. Eine Rezension.
Die Kernthese von Alvin Rosenfeld lautet: „Gerade der Erfolg des in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Wissens um den Holocaust kann dazu führen, seinen gravierenden Charakter auszuhöhlen und ihn uns fast vertraut erscheinen zu lassen.“ Dieses Zitat lässt schon erkennen, dass das vorliegende Buch ungewöhnlich schlecht übersetzt ist. Das Hauptproblem ist für Rosenfeld das in der Öffentlichkeit – wo eigentlich sonst? – verbreitete Wissen. Der Erfolg dieses Wissens höhlt den gravierenden Charakter des Holocaust aus, ein ziemlich missratenes Bild. Man kann immerhin ahnen, was gemeint ist: Die andauernde Beschäftigung mit dem Holocaust und seine Popularität in nahezu allen Kunstformen kann zu seiner Trivialisierung führen. Diese These ist nicht gerade neu. Die Bücher von Peter Novick („The Holocaust in American Life“, 1999) und Norman Finkelstein („The Holocaust Industry“, 2000) haben seinerzeit eine internationale Debatte ausgelöst und vor allem in Deutschland eine Reihe von Veröffentlichungen nach sich gezogen, die Rosenfeld aber nicht rezipiert hat.
Amerikanisierung des Holocaust
Ein weiteres Problem sieht der Autor darin, dass die meisten Menschen ihre Kenntnisse über den Holocaust eher aus den Werken der Popularkultur als aus den Darstellungen der Fachhistoriker beziehen. Rosenfeld sieht, so die deutsche Übersetzung, diese beiden „Quellen als rivalisierende Unternehmungen, wobei die Konkurrenz zwischen ihnen als Kampf zwischen antithetischen ehrgeizigen Bestrebungen angesehen werden kann“. Natürlich gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen der Arbeit von Wissenschaftlern und der Verwertung ihrer Forschungsergebnisse in Spielfilmen oder Romanen. So streiten die Historiker bis heute über die zutreffende Deutung der Geschichte des Rosenstraßen-Protests, eine Diskussion, die sich in Margarethe von Trottas Verfilmung „Rosenstraße“ (2003) naturgemäß nicht widerspiegelt. Daraus aber eine grundsätzliche Antithetik zwischen Werken der Kultur und der Arbeit der Historiker konstruieren zu wollen, ist doch ziemlich abwegig. Man denke etwa an Roman Polanskis großartigen Film „Der Pianist“, der Millionen von Menschen erstmals mit dem Warschauer Aufstand von 1944 bekannt gemacht hat und nicht zuletzt das Schicksal von Wilm Hosenfeld der Vergessenheit entrissen hat, das inzwischen eine breite Würdigung erfahren hat.
Die erwähnten Filme werden im Buch übrigens ebenso wenig diskutiert wie die einschlägigen Werke von Alain Resnais, Andrzej Wajda, Roberto Benigni, Lina Wertmüller, Marcel Ophüls oder Claude Lanzmann, um nur einige wichtige Namen zu nennen. Rosenfeld beschränkt sich auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“, dessen Bedeutung nicht zu bestreiten ist. Der Film dient ihm allerdings vor allem zur Illustrierung seiner These von der Amerikanisierung des Holocaust. Der Film konzentriere sich ganz auf die Person des Retters, mache die Juden zu Randfiguren und bediene die „traditionellen amerikanischen Präferenzen für Helden und glückliche Ausgänge“.
Tatsächlich kann man den Film auch ganz anders sehen. Oscar Schindler ist ein Beispiel dafür, welche Möglichkeiten für Widerstandshandlungen selbst ein totalitäres Regime wie das der Nationalsozialisten bot, wenn man nur die Bereitschaft und den Mut hatte, sie zu nutzen, was beschämend selten vorkam. Alvin Rosenfeld irrt auch, wenn er behauptet, erst Spielbergs Film habe Schindler als Judenretter bekannt gemacht. Tatsächlich durfte Schindler schon 1962 in der Allee der Gerechten unter den Völkern in Yad Vashem einen Baum pflanzen, über dreißig Jahre, bevor Spielbergs Film herauskam.
Auch im Kapitel über Anne Frank zitiert er nahezu ausschließlich englischsprachige Literatur
In der Einleitung zu seinem Buch schreibt Rosenfeld: „Wie ich die Tendenz des Wandels innerhalb einer sich herausbildenden öffentlichen Erinnerung an den Holocaust, insbesondere in der amerikanischen Kultur, einschätze, so erreichen wir möglicherweise einen Punkt des Überdrusses in Bezug auf eine ernsthafte Beschäftigung mit den Nazi-Gewalttaten gegen die Juden.“ Man darf wohl sagen, dass diese These spätestens durch die Ereignisse des Gedenkjahres 2015 glänzend widerlegt worden ist. Der zitierte Satz offenbart zugleich eine der Hauptschwächen des Buches. Rosenfeld bezieht sich vor allem auf die Situation in den USA, während er über die deutsche Memorialkultur offenkundig nicht viel weiß. Ihn interessiert vor allem Ronald Reagans Deutschlandbesuch 1985, den er über zehn Seiten hinweg abhandelt. Reagans und Kohls unglückseliger Besuch der Kriegsgräberstätte in Bitburg ist ihm ungleich wichtiger als die Rede Weizsäckers vom 8. Mai 1985. Der Auschwitz-Prozess wird mit keinem Wort erwähnt, ebenso wenig die amerikanische Fernsehserie „Holocaust“, die seinerzeit in Deutschland eine enorme Wirkung entfaltet hat. Auch das Holocaust-Denkmal in Berlin ist ihm keine Erwähnung wert.
Fast ein Viertel des Buches ist Anne Frank gewidmet, dabei zitiert Rosenfeld allerdings nahezu ausschließlich englischsprachige Literatur. Rosenfeld kritisiert, dass Anne Frank immer mehr zur Ikone verkommt, ist aber auch selbst nicht vor der Versuchung gefeit, sie als solche zu sehen. Bezeichnend ist, dass Anne Frank im Register seines Buches nicht unter dem Buchstaben „F“ aufgenommen ist, wo man es erwarten würde, sondern unter „A“.
Ausführlicher setzt sich Alvin Rosenfeld mit den Schriftstellern Jean Améry, Primo Levi, Elie Wiesel und Imre Kertész auseinander, wobei er ausschließlich die amerikanische Sekundärliteratur zitiert. Sein einziger Gewährsmann für den österreichischen Schriftsteller Jean Améry ist dessen amerikanischer Übersetzer.
Im Epilog kommt der Autor noch einmal auf seine These vom Ende des Holocaust zu sprechen. Sein Ziel sei es gewesen, „einige der hervorstechenden Dimensionen und Konsequenzen“ des Wandels darzustellen, den dieses Ende zur Folge hat. Rosenfeld entlässt den Leser mit einer eindringlichen Warnung vor der „mörderischen Phantasie des jetzigen iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinedschad, der anscheinend nie müde wird, Todesurteile gegen den Staat Israel auszustoßen“. Todesurteile möchte der Rezensent gewiss nicht „ausstoßen“, aber doch von der Lektüre dieses wenig erhellenden Buches eher abraten.
– Alvin H. Rosenfeld: Das Ende des Holocaust. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015. 276 Seiten, 39,99 Euro.
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