Berlinale: Mit den Augen der Frau
Weltpremiere auf der Berlinale 2018 für Regie-Studentin Sophia Bösch von der Filmuniversität Babelsberg.
Wald. Überall. Ein endloser Wald, irgendwo in Schweden. Linn ist alleine, sie schaltet Funkgerät und GPS ab. Nur der Hund ist bei ihr, bis auch er weg ist. Linn ist 16. Verlaufen hat sie sich nicht, sie hat auch keine Angst. Sie sucht ein Elchkalb. Das Kind der Elchkuh, die sie kurz zuvor erschossen hat. Sie war zum ersten Mal mit ihrem Vater zur Elchjagd gekommen. Sie hatte den besten Hochstand bekommen, als ihr die Elchkuh vor Flinte kam, schoss sie sofort – und traf. Aus dem Funkgerät knarzte noch die Stimme ihres Vaters: „Lass Dir Zeit“. Doch die hatte Linn nicht.
Als die anderen Jäger in „Rå“, dem Film der Babelsberger Regiestudentin Sophia Bösch, das tote Tier untersuchen, rinnt ihnen nicht nur Blut über die Hände, sondern auch Milch. Der Schreck ist bei allen groß. War da ein Kalb, als Linn so vorschnell geschossen hatte? Elchkühe dürfen nicht geschossen werden, bevor man ihr Kalb erlegt hat. Nein, Linn ist sich ganz sicher, dass kein Kalb bei der Mutter war, doch die anderen glauben ihr nicht wirklich.
Das Kalb muss gefunden werden, damit es nicht elend verendet, noch vor Einbruch der Dunkelheit. Linn soll nicht mit auf die Suche, doch sie setzt sich einfach ab. Als sie zum Lagerfeuer zurückkommt, ist es schon tiefe Nacht. Die Männer sind sauer, dass sie sich alleine auf die Suche gemacht hat – aber natürlich auch froh, dass sie wieder aufgetaucht ist. Linn weiß, was mit dem Elchkalb passiert ist. Doch keiner glaubt ihr, sie ist doch noch ein Kind, eine junge Frau – keine Jägerin. Am Ende wissen nur Linn und ihr Hund, wie es wirklich war.
„Rå“ ist der Bachelor-Abschlussfilm von Sophia Bösch. Gestern feierte er auf der Berlinale Weltpremiere. Ein Coming-of-Age-Film, ein klassisches Initiationsthema. Doch nicht die erlegte Elchkuh ist der Punkt, an dem die 16-Jährige erwachsen wird. Die Jagd und ihre Gesetze kennt sie von ihrem Vater schon lange. Vielmehr ist ihr Eintreten in die verschlossene Männerwelt der Jäger für sie der Bruch. Fast hat sie es geschafft nach ihrem schnellen Treffer. Doch so einfach ist es dann eben doch nicht.
Linn ist zwischen den Erwachsenen so auf sich gestellt, wie zwischen den Bäumen des endlosen Waldes – als Heranwachsende, als Frau. Linn wird mit der Gesellschaft konfrontiert, der sie angehören will, gleichzeitig aber auch mit sich selbst. Nicht von ungefähr gibt es mehrfach eine Kameraeinstellung, bei der man einen Fremden im Wald zu sehen meint. Doch ist das nicht Linn selbst? Auch der Hund hat etwas gehört. Sie legt das Gewehr an, zielt in die Dunkelheit, doch da ist niemand. Als sie zurückgeht, singt sie, um die Angst zu vertreiben. „Rå“ bedeutet im Schwedischen so viel wie rau oder roh, wie die Männergemeinschaft der Jäger, aber es ist auch das Wort für einen Waldgeist, der auf einem Elch reitet und die wilden Tiere bewacht.
Wir treffen die Regisseurin Sophia Bösch drei Tage vor der Weltpremiere auf der Berlinale. Sie sei ziemlich aufgeregt, sagt sie, was ihr aber keineswegs anzumerken ist. Die Premiere war ausverkauft, ihr Film hatte auf Anhieb 500 Zuschauer. Für die Babelsberger Filmstudentin ist es nicht das erste Mal auf dem großen Festival, 2016 bereits hatte sie den Film „Meinungsaustausch“ im Programm.
Ihr Film ist ein Statement – nicht nur für ein anderes Verständnis für die Natur, die uns umgibt, sondern vor allem auch für einen neuen Blick auf die Geschlechterrollen in unserer Gesellschaft. Es geht um die Suche einer heranwachsenden Frau nach Anerkennung in einer eingeschworenen Männerwelt. Sophia Bösch will zeigen, was es heißt, sich als Mädchen in unserer Gesellschaft behaupten zu müssen. Offiziell sind Frauen in Schweden gleichberechtigt – trotzdem fällt es Linn schwer, auf Anhieb akzeptiert zu werden.
Als junge weibliche Filmemacherin will Sophia Bösch ihre Perspektive auf die Welt zeigen, und das ist eben der Blick einer jungen Frau. Gerade in der Filmbranche sei man mit dem Thema Gleichberechtigung permanent konfrontiert, sagt sie, gerade hier seien die Chancen für Frauen ihre Perspektive zu erzählen noch viel zu gering: „Frauen haben es nach wie vor in der Filmbranche schwer, weiterzukommen.“
Letztlich meistert Linn den Gang in die Wildnis ganz alleine. Sie ist mutig, wirkt unerschrocken. Doch scheitert das Mädchen nicht am Ende, weil sie nicht Ernst genommen wird? Sophia Bösch sieht das ganz anders. Sie meint, dass es die Männer sind, die scheitern, weil sie Linn und ihre Leistung nicht erkennen. „Am Ende merkt Linn, dass sie sich nicht gegenüber den Männern, sondern nur sich selbst beweisen muss, eine richtige Jägerin zu sein.“
Wer hingegen in einen Konflikt gerät, ist ihr Vater. Als Linn bei der Suche nach dem Elchkalb verschwindet, gerät seine Rolle als Jagdführer ins Wanken, weil er als Vater Verletzlichkeit zeigt. Auch hier hinterfragt die Studentin die gängigen Geschlechterklischees. „Die Frage ist, was ein richtiger Mann ist, das archaische Bild oder das, das von der Gesellschaft konstruiert wurde“, sagt Bösch.
Der Wald, in dem die Regisseurin Linns Geschichte erzählt, ist der Wald, in dem sie selbst als Kind oft umhergestrichen ist, als sie ihre schwedische Großmutter besucht hat. Hier in Schweden war ihr Vater groß geworden, hier war die Familie zur Jagd gegangen, nicht aus Zeitvertreib, sondern um Fleisch als Nahrung zu jagen. Das war etwas anderes als die Sportjagden heutzutage. Und dann die endlosen Wälder. Einmal hatte sie sich verlaufen. „Wenn dann das Handy nicht mehr funktioniert, wird einem bewusst, wie verwundbar man doch eigentlich ist.“ Am Ende war es ein Hund, der ihr wieder herausgeholfen hat.
In der letzten Szene sehen wir Linn und ihren Vater im Auto auf einer Straße, die kein Ende zu nehmen scheint. Die Kamera schwenkt über die Bäume. Wald, wieder Wald, überall. Der endlose Wald. Weit oben kreist ein Vogel, ganz frei.
Der Film ist auf der Berlinale zu sehen am heutigen Freitag um 20 Uhr im CinemaxX 1, am Samstag um 12.30 Uhr im Colosseum 1 sowie am 28. Februar um 18 Uhr im Filmmuseum Potsdam