Judith Hermanns Erzählband "Alice": Mandelhörnchen-Elegie
In der Detailschilderung ausdauernd und präzise: Mit "Alice" hat Judith Hermann ein Buch übers Sterben geschrieben.
Zuerst liegt Micha im Sterben, der Ex- Freund. Dann stirbt Conrad, ein väterlicher Freund. Dann Richard, ein vermutlich ebenfalls älterer Freund. Malte wiederum ist ein Onkel, der sich vor fast 40 Jahren das Leben genommen hat. Und schließlich muss auch Raymond dran glauben, der Lebensgefährte. Fünf tote Männer. Und Alice, eine Frau um die vierzig, die versucht, den Tod dieser ihr nahestehenden Menschen zu verarbeiten – auf diesen einfachen inhaltlichen Nenner lässt sich Judith Hermanns neues Buch bringen, das den Namen seiner Hauptfigur im Titel trägt und dessen fünf Erzählungen nach den Namen der toten Männer benannt sind.
Es scheint zunächst, als habe sich Hermann bewusst losschreiben wollen von ihrem Image, die „Stimme einer Generation“ zu sein, das sie seit ihren Erzählbänden „Sommerhaus, später“ (1998) und „Nichts als Gespenster“ (2003) hat. Diese Bücher werden bevölkert von ziellos dahintreibenden, unfertigen und unsicheren Figuren, die sich in ihrer Ziellosigkeit aber gut eingerichtet haben, die gern unfertig und irgendwie unsicher sind.
Mehr so ein Dahintreiben aber ist es auch in „Alice“, eine gewisse Traumverlorenheit, die vor allem Alice, aber auch die anderen Protagonisten des Buches auszeichnet. Nur machen sie jetzt wirklich eine universelle Erfahrung, werden sie mit dem größten Ernst konfrontiert, den das Leben kennt: mit dem Tod.
„Alice“ ist ein Buch über den Tod. Und es ist dann manchmal auch eines über die Liebe, die sich in der Rückschau, der Erinnerung an die Toten zeigt: „Es hatte Zeiten gegeben“, heißt es in „Micha“, „da hatte sie gemeint, sie könnte gar nicht leben, wenn sie Michas Gesicht nicht mehr sehen würde. Sie hatte ihm das oft gesagt. Er hatte jedes Mal freundlich darüber gelacht.“ Worte dafür aber, wie sie das Sterben und den Tod ihrer Freunde verkraftet, fehlen Alice, „eigentlich, fand Alice, redeten sie genau an den Dingen vorbei“, wie es in „Raymond“ heißt, der letzten Geschichte. Die Dinge spielen jedoch eine große Rolle in „Alice“.
Im Beschreiben der Dinge ist Judith Hermann so ausdauernd und präzise wie sie in den Wortwechseln ihrer Figuren und den Beschreibungen ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen betont unpräzise ist. Sei es die Ausstattung der Wohnung, die Alice, Maja und deren kleine Tochter beziehen, um Majas Mann Micha in der Klinik in Zweibrücken nahe zu sein, sei es die Gegend, in der Alice in Berlin wohnt – nichts bleibt hier unbeobachtet, nicht die winzige Hexe auf einem Besen aus Draht an einem Schlüsselbund, nicht die Pappbecher, Zeitungen und Flaschen, die an einem heißen Sommerabend in einem Park in Prenzlauer Berg herumliegen. Hermann versteht es, ihre Geschichten in eine große Traurigkeit, eine große Melancholie zu tauchen und dabei auch, wie etwa in der „Conrad“-Geschichte, die auf Hermanns letzter Begegnung mit dem 2003 verstorbenen Literaturkritiker Reinhard Baumgart beruht, ein gelungenes Wechselspiel von Licht und Schatten zu erzeugen: die Schönheit der Landschaft am Gardasee hier, der überraschende Tod Conrads dort, beides aber will sich nicht wirklich zusammenfügen. Hermanns Geschichten werden stilsicher von einem herben Sound beherrscht, den sie mit vielen kurzen Sätzen erzeugt, mit Ellipsen und einem oftmaligen Verzicht auf Verben. Stil und Syntax erinnern da bisweilen an die Prosa einer Marlene Streeruwitz.
Dieser Sound strengt beim Lesen mitunter arg an, wird jedoch immer wieder gebrochen von seltsamen Dialogen: „Was für eine Erleichterung, dich zu sehen, sagte Alice. Das glaubst du gar nicht, du glaubst es nicht. Und wenn doch, sagte Anna. Ändert es auch nichts, sagte Alice“. Judith Hermann gefällt sich in Sätzen wie diesen, sie machen den rätselhaften Charme dieser Geschichten genauso aus wie sie auf Dauer enervierend sind.
Alice erleidet Schicksalsschlag auf Schicksalsschlag, ohne aus der Lebensbahn herausgetragenen zu werden. Sie ist eine Frau ohne Eigenschaften, aber traurig, na klar. Und sie macht im Verlauf des Buches keine wirkliche Entwicklung durch. Eine solche soll vermutlich die Auseinandersetzung mit dem Tod ihres Onkel Malte darstellen, dessen einstigen Liebhaber ihr Liebesbriefe von Malte übergibt, ohne dass Alice diese zu lesen gewillt ist: „Was immer darin stand – es würde nichts ändern.“ Und so ändert auch Raymonds Tod wenig, der das Buch etwas gewalttätig und arg künstlich rundet, tauchen hier doch alle Figuren aus den Vorgeschichten noch einmal auf.
Da bekommt das Ganze auch noch einen Drall ins Kitschige, als die Dinge plötzlich ihre Bestimmung erfahren und den Toten zum Leben erwecken sollen. Insbesondere der Rest eines Mandelhörnchens, das Raymond sich einst gekauft hat, bewegt Alice zutiefst: „Raymond. Hatte Hunger gehabt. Lebendigen, einfachen Hunger. Sich ein Mandelhörnchen gekauft. Das hatte er nur in einer einzigen Bäckerei getan, sonst nirgends.“ Und weiter: „Wohin mit dem Rest, wohin damit – das musste man also lernen.“
Es hilft nichts, es ändert alles nichts, man muss das also lernen – in seiner merkwürdigen Unbestimmtheit kennt dieses Buch bis zum Schluss kein Pardon.
Judith Hermann: Alice. S. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 2009. 190 S., 18, 95€.
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