PNN-Serie "Potsdamer Schreibtische": „Man muss weinen beim Schreiben“
In der Serie „Potsdamer Schreibtische“ stellen die PNN Autorinnen und Autoren aus Potsdam vor. Heute in der Serie: Julia Schoch, die regelmäßig wie ein Büromensch in ihrer Schreibhöhle ohne Ausblick arbeitet.
Frau Schoch, Sie arbeiten in einem Büro ohne Ausblick in der Brandenburger Straße. Warum gerade hier?
Ohne Ausblick? Wenn man sitzt, sieht man die Dächer, das mochte ich schon immer. Und im Winter scheint die Sonne rein. Der Raum, meine Schreibhöhle, war eine pragmatische Entscheidung. Früher hatte ich meinen Schreibtisch zu Hause, aber seitdem die Kinder da sind, ist es so einfach praktischer. Hier habe ich nicht mal Internet, das lenkt nur ab.
Wann schreiben Sie?
Früher konnte ich schreiben, wann und wie ich wollte, nachts, morgens, egal. Jetzt arbeite ich von neun bis vier. Im Grunde arbeite ich wie jeder normale Büromensch. Eine angenehme Struktur, die mir entgegenkommt. Es lädt nicht zum Verzetteln ein.
Im Regal stehen Ordner zu Ihrer 2003 abgebrochenen Dissertation zu Michel Houellebecq, auf dem Tisch liegt ein deutsch-französisches Wörterbuch. Sie haben einige Zeit in Frankreich gelebt, inwiefern ist das Land eingeflossen in Ihre Bücher?
Mein Schreiben hat sich immer stark aus französischen Autoren abgeleitet. Ein ganz wichtiges Buch war für mich damals, als ich angefangen habe, „Das Badezimmer“ von Jean-Philippe Toussaint. Plötzlich war da ein Ausweg, eine Möglichkeit, wie man über die Gegenwart schreiben kann. Formal wie inhaltlich. Die melancholische Verabschiedung der ganzen theorielastigen Literatur der 1960er- und 1970er-Jahre, ohne die Theorie aber deshalb zu verdammen, das fand ich erhellend. Dazu die Ratlosigkeit die Zukunft betreffend. Die deutsche Gegenwartsliteratur der 90er-Jahre war da weniger inspirierend.
Woran arbeiten Sie jetzt gerade?
Ich habe vor Kurzem einen größeren Roman beendet. Er heißt „Schöne Seelen und Komplizen“ und erscheint im Herbst. Darin gibt es mehrere Stimmen, die von verschiedenen Seiten her um dasselbe Thema kreisen. Einmal um 1989 bis 1992 herum, und dann 30 Jahre später – da gucken sie sozusagen, was aus den Ansprüchen, die man hatte, geworden ist. Und ob man mit der Vergangenheit überhaupt noch etwas zu tun haben möchte.
Ein Wenderoman? Sie haben sich selbst mal gegen Wenderomane geäußert
Der Roman spielt 30 Jahre danach, also kann es gar keiner sein. Die Bewegung des Aufs und Abs der letzten Jahre interessiert mich. Warum ist man der geworden, der man ist? Diese Frage versuchen die Figuren alle unterschiedlich zu beantworten. Die Klammer ist, dass sie als Schüler in derselben Klasse saßen. Ein gemeinsamer Ausgangspunkt, der so zufällig wie erzwungen ist.
Und ein Protagonist ist wieder Potsdam?
Das Lokale interessiert mich ja nicht so rasend, andererseits wäre es albern, sich um seine eigenen Erfahrungen zu bringen. Das kann ich ja nicht einfach unerzählt durchwinken. Insofern spielt die Stadt Potsdam in der einen oder anderen Episode durchaus eine Rolle, allerdings nicht auf eine dokumentarische Weise.
Dass das Lokale nicht so interessant für Sie ist, kann ich gar nicht glauben.
Ich habe in den letzten Jahren Essays und Kolumnen geschrieben, in denen ich mich ausführlich und konkret zur Geschichte und zum Aussehen „unserer“ Stadt geäußert habe. Da hat das gepasst. Natürlich war Potsdam immer besonders, eine Grenzstadt, eine Inselstadt. Außerdem bildet sie meinen persönlichen biografischen Hintergrund. In einem Roman interessieren mich aber eher andere Dinge als der lokale Raum. Zum Beispiel die Frage, ob Erfahrungen aus einer Zeit, die es nicht mehr gibt, überhaupt etwas wert sind.
In Ihrem Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“ (2013) taucht Potsdam zum ersten und einzigen Mal namentlich auf, als „Pe“. Warum wollten Sie es da doch nennen?
In dem Roman spielt die Stadt tatsächlich die Hauptrolle, zugegeben, eine stumme. In Potsdam lässt sich wirklich gut sehen, wie sich Geschichte bewegt. Das kann man ja nicht überall. Die Stadt verwandelt sich unablässig, Geschichts- und Biografieräume werden umdefiniert, könnte man abstrakt sagen. Würden wir nur lange genug dableiben, würden wir irgendwann vielleicht auch sehen, wie das Hotel Mercure wieder aufgebaut wird. Es würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn es nach dem Abriss, der irgendwann kommen wird, in 70 Jahren wieder steht. Diese Kreisbewegung spiegelt sich im Roulette, um das es in dem Roman ja vor allem geht. Dadurch, dass das Kasino in Potsdam in einem historischen Gebäude untergebracht ist, passte es gut. Es drängte sich geradezu auf, die Stadt auch zu nennen, mit diesem Kürzel. Das ganze Buch ist ja mit einem posthumen Blick geschrieben, eine Art Geisterblick. Das Erzählen beginnt, wenn alles vorbei ist, die Liebe, die Geschichte. Insgesamt gesehen ist die menschliche Geschichte ja ohnehin recht kurz.
In einem jüngeren Aufsatz schreiben Sie: Die Zeit der Literatur ist nicht die Gegenwart, sondern die Ewigkeit. Dabei umkreisen Sie doch immer wieder bestimmte zeitgeschichtliche Räume, konkret die DDR. Wie ist das also gemeint?
Ich hatte gerade heute mit dem Nietzsche-Satz zu tun: Zum Glück haben wir die Kunst, um der Wahrheit nicht ins Auge blicken zu müssen. Ich verändere ja die Geschichte, indem ich sie beschreibe. Ich bin keine Chronistin, keine Historikerin. Ich versuche, so etwas wie den Mythos einer Zeit herauszuschälen. Eine Grundstruktur. Das ist die Arbeit der Literatur. Ich kenne die Details, schmeiße sie dann wieder weg und in einem vagen Bewusstsein dieser Details schreibe ich dann meine Fassung der Geschichte auf. Das ist aber nichts, was ich mir vornehme, wenn ich mich an den Schreibtisch setze. Sondern einfach meine Art zu sehen. Es braucht auch ein paar Jahre, um sich das selbst klarzumachen. So langsam verstehe ich, was ich mache. (lacht)
Schon 2003 schrieben Sie in einem Essay: Weg mit der Psychologie aus der Literatur! Eine Maxime, der Sie treu geblieben sind.
Jetzt im neuen Roman mache ich genau das Gegenteil, aber wiederum so krass, dass es eigentlich dasselbe ist. Das Wichtige ist doch, dass man nicht in der Mitte bleibt. Man muss entweder das eine oder das andere Extrem machen.
Also ist der neue Roman jetzt doch ein psychologischer Roman?
Ja, genau. (lacht) Na ja, die Figuren reden, sie wollen sich erklären. Jede schildert ihr Leben aus der Ich-Perspektive, lauter in sich verschlossene Ich-Kokons. Natürlich sind sie alle miteinander verbunden, aber die wenigsten wissen es. Wogegen ich mich damals in dem Aufsatz gewehrt habe, ist, dass der Autor so faule Behauptungen schreibt wie: „Der Held stand auf und fühlte sich schlecht.“ Was für eine Anmaßung. Mir gefiel es immer viel besser, den geistigen Zustand eines Helden aus seinen Handlungen heraus erkennbar zu machen.
Und das ist in der Ich-Perspektive, die Sie fast immer benutzen, besser machbar?
Das Ich ist eine wunderbare Boje, um anzudocken. Es ist eine formale Technik, die sehr viel erlaubt. Auf den ersten Blick schränkt sie ein, aber sie hat ihr Gutes, wenn man weiß, wozu man sie einsetzen kann. Mir gefällt das Affektive daran, da ist jemand sehr nah, wenn man „ich“ liest. Im Übrigen kann ein Autor sich hinter einem Ich viel besser verstecken als hinter einem allwissenden Erzähler. Ich fühle mich jedenfalls freier mit dieser Perspektive.
Sie übersetzen parallel auch aus dem Französischen. Wie ergänzt sich das?
Das ergänzt sich sehr gut. Es sind ja auch immer angenehme Aufträge, jedenfalls habe ich mich nie fremdbestimmt gefühlt. Parallel zu dem neuen Roman habe ich das zweite Buch von Eugène Dabit übersetzt, „Petit-Louis“, es erscheint im nächsten Frühjahr und erzählt die Geschichte eines jungen Mannes und seiner Familie im Ersten Weltkrieg. Das Übersetzen hat mich früher auch gerettet. In Zeiten, als ich richtiggehend Wortekel hatte, als ich dachte, ich hätte nur noch 50 Wörter zur Verfügung, aus denen ich ein Buch machen müsste. In so einer Situation hilft das Übersetzen, man bleibt halbwegs entspannt. Im Grunde ist diese Arbeit ein Dauerfortbildungskurs. Man bleibt in Kontakt mit der Sprache, mit der Kultur. Oft schreibe ich auch noch das Nachwort zu einer Übersetzung, da kann ich dann Akten lesen, Zeitungen, mir die Zeit erschließen. Eine große Freude, muss ich sagen.
Wie kommen Sie zu Ihrer „Erzähltemperatur“? In Ihrem Schreiben mischen sich Denken und Empfindung, es gibt immer eine große Distanz. Wie stellt sich so etwas ein?
Das weiß ich nicht. Das Ekstatische hat mich immer mehr interessiert, wenn es gezähmt präsentiert wird. Vielleicht ist das auch so ein Schutzding, das man sich errichten muss, um den Emotionen nicht völlig ausgeliefert zu sein. Aber das sucht man sich nicht aus. So war ich schon immer: etwas empfinden und es dann gleich zu prüfen.
Ihren Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“, in dem die Protagonistin vom Tod der Schwester erzählt, nannte die Kritikerin Iris Radisch einen „Kältetod“.
Die Frage ist doch: Wie arrangiert man sich mit den Emotionen? Ich konnte das Buch nur so schreiben. Wie hätte es denn geklungen, wenn ich es vor Tränen zerfließend geschrieben hätte? Ich habe es ja vor Tränen zerfließend geschrieben. Man muss schon weinen beim Schreiben, das finde ich schon. Eine Bedingung. Aber ob der Leser dann weinen muss, ist eine andere Frage. An so einen Ton tastet man sich ja auch heran, nach einer gewissen Anzahl von Seiten merkt man: Da ist er. Den hat man noch nicht im ersten Absatz des Entwurfs. Ich versuche vieles, und dann ist es einfach falsch. Man muss nach den Mitteln suchen, die man beherrscht.
Sie spüren in Ihrem Schreiben dem Vergangenen nach. Haben Sie eigentlich Angst davor, dass hier in Potsdam mal alles durchsaniert wird?
Angst habe ich überhaupt nie. Das ist die Grundbedingung.
Das Gespräch führte Lena Schneider
ZUR PERSON: Julia Schoch wurde 1974 in Bad Saarow geboren und wuchs in Mecklenburg auf. Seit 1986 wohnt sie in Potsdam. In den 1990er-Jahren studierte sie Germanistik und Romanistik. Sie lebte längere Zeit in Paris, Bukarest und Kaliningrad. Von 2000 bis 2003 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin für französische Literatur an der Universität Potsdam. Seit 2003 ist sie freiberufliche Autorin und Übersetzerin. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“ (2012), in dem die Stadt Potsdam die stumme Hauptrolle spielt – genannt „Pe“.
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Lesen Sie mehr aus unserer Serie „Potsdamer Schreibtische“ und erfahren Sie, wie Potsdamer Autoren und Autorinnen arbeiten, was sie bewegt und inspiriert. Wie der Schriftsteller John von Düffel, der Disziplin für unersetzbar hält, oder Christine Anlauff, die sich gerne immer wieder neu ausprobiert.
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