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Im Sans Titre sind Blätter und Bilder der Künstler versammelt, die in den vergangenen Jahrzehnten zum Heft „Herzattacke“ beigesteuert haben. 
© Andreas Klaer

Ausstellung im Potsdamer Sans Titre: Kunst greift an

Das Sans Titre zeigt den Kosmos von „Herzattacke“, einer Zeitschrift, die vorbei an der Zensur gegründet wurde und jetzt 30 wird.

Potsdam - Für den Künstler Mikos Meininger ist es eine Herzensangelegenheit: das 30-jährige Bestehen der Zeitschrift „Herzattacke“. „Eigentlich ist es keine Zeitschrift, sondern ein bibliophiles Projekt“, sagt Meininger, der im Kunsthaus Sans Titre eine Ausstellung mit Grafiken der „Herzattacke“ aus den vergangenen 30 Jahren zeigt.

Exemplare der Zeitschrift liegen dort aus. Das großformatige Druckwerk wiegt schwer in der Hand, wie ein teurer Katalog. Mir viel Sorgfalt gestaltet, ist die Zeitschrift ein beeindruckendes Zeugnis für mögliche Konstanten im Wandel der Zeit. Sie hat einen prächtigen Einband, im Innenleben mischen sich Poesie, Lyrik, Prosa und allerlei Bildwerk.

1988 gründete sich die unabhängige Künstlergruppe „Herzattacke“. Im darauffolgenden Jahr erschien die erste Ausgabe des Druckwerkes. Die Auflage betrug genau 95 Stück pro Band. „Ab 100 Bänden hätten wir das Ganze der Zensurbehörde der DDR vorlegen müssen, und das wollten wir nicht“, erinnert sich Meininger. Es sollte ein Freiraum sein, in einem „einzigartigen, aber langweiligen Leben, das der Veränderung bedurfte, die nur über Dichtung, Musik, Literatur im großen Rahmen der Kunst möglich“ ist, so Markus Metke, der ebenfalls an der Zeitschrift mitwirkt, über das Anliegen der Herausgeber.

Experimente mit Kunst

Es habe sich damals in Ostberlin eine Gruppe von Künstlern, Literaten und Kulturinteressierten gefunden, die dem Surrealismus zugeneigt war. Sie experimentierte mit Bild, Ton, Text, Film und Geräusch. Sie verband: der Glaube an die Kunst und deren unbeschränkte Möglichkeiten auch in einem ummauerten Raum. „Aber“, sagt Metke: „Wirklich in den Westen wollte niemand“. Es sei eher darum gegangen, „diesen fast zur Lächerlichkeit verkommenen Staat lebenswerter zu gestalten“. Zunächst hatte eine locker zusammenhängende Gruppe von befreundeten Künstlern das Heft in gemeinschaftlicher Arbeit erstellt.

Im Laufe der Jahre kristallisiert sich der Literat Maximilian Barck als derjenige heraus, der das Projekt maßgeblich vorantrieb. Barck war für seinen exzessiven Lebensstil bekannt, aber auch dafür, ein Intellektueller in der DDR zu sein, der Kontakt zur westlichen Intelligenz hatte. Mit Gästen aus der Bundesrepublik geriet er gerne in einem munteren Streit über die Verwerfungen des jeweiligen Systems. „Er war die Seele des Betriebs. Als er im Januar 2013 mit 51 Jahren verstarb, haben wir zunächst überlegt, ob wir überhaupt weiter machen sollen“, erinnert sich Meininger. Es sei ja gar nicht so einfach, eine Zeitschrift ohne jegliche Förderung und jedes Sponsoring zu betreiben. Man sei auf das Mäzenatentum von Unterstützern angewiesen, die für ihr Engagement eben keine Gegenleistung in Form von lobender Werbung für das jeweilige Unternehmen erwarten. Aber das Experiment gelang.

Jan Wagner liest im Sans Titre

Etwa 100 bildende Künstler und 300 Autoren hätten mittlerweile für die „Herzattacke“ Beiträge verfasst, so Meininger. Der Großteil der Hefte wird an die Produzenten vergeben und von denen an Freunde und Bekannte weitergereicht. Der kleinere Teil aber wird zu variierenden Preisen von mehreren hundert Euro verkauft. Auch das Potsdam Museum, Bibliotheken in Standford, Paris und New York haben begonnen, die Ausgaben zu sammeln. Im Januar 2018 erschien die Nummer 100, nun die 102te. Bekannte Namen und Szenegrößen finden sich unter den Autoren: Bernd Papenfuß, Wolfgang Hilbig, Jan Wagner.

Wagner ist einer der Literaten, die bei der Lesereihe anlässlich der Ausstellung mitwirken und ebenso wie der 2007 verstorbene Hilbig den Georg-Büchner-Preis erhielt. Thomas Böhme und Ina Strelow sind die beiden anderen Autoren der ersten Lesung. Die Rundfunkautorin und Dramaturgin Strelow veröffentlicht regelmäßig in der Zeitschrift. „Einsamkeit“ sei das Thema eines neuen Textes, den sie voraussichtlich bei ihrer Lesung vortragen möchte.

Voraussetzung für das Erscheinen eines Textes oder einer Grafik im Heft der „Herzattacke“ sei es, dass diese zuvor nirgendwo anders erschienen ist, sagt Meininger. Danach allerdings würden viele der Texte in Literatur- oder sonstigen Zeitschriften veröffentlicht. Bei den Grafiken handele es sich jeweils um Unikate. Und zwar bei jeder Grafik im Heft. Ein Zeichner müsse also 95 verschiedene Zeichnungen für ein Heft fertigen, was auch eine Fleißarbeit sei. Die von Hand gefertigten Blätter werden dann fest ins Heft eingebunden. So ist jeder Band auch eine grafische Kostbarkeit. Was den relativ hohen Verkaufspreis dann eher günstig erscheinen lässt.

Auch Bilder von Strawalde sind zu sehen

Im Sans Titre sind Blätter und Bilder der Künstler versammelt, die in den vergangenen Jahrzehnten zum Heft beigesteuert haben. Darunter Zeichnungen von Strawalde ebenso wie von Cécile Wesolowski, Fotografien des Preisträgers des Brandenburgischen Kunstpreises von 2018, Göran Gnaudschun, oder eine Grafik von Hubertus von der Goltz.

Zusätzlich zum eigentlichen Heft, das in vier bis sechs Ausgaben im Jahr erscheint, finden auch Editionen ihren Weg in die (begrenzte) Öffentlichkeit, in der ein Autor und ein Künstler des Blattes zusammenarbeiten. Meininger weist auf einen Berg von Büchern, der sich im Ausstellungsraum des Sans Titre stapelt: „Das ist nur ein Teil davon. Es wäre schön, wenn sich jemand mal aufmachen würde, ein systematisches Verzeichnis all der erschienen Ausgaben zu erstellen.“ Es wird offensichtlich: die „Herzattacke“ ist keine Zeitschrift, sondern ein Kosmos. 

>>Lesung am Sonntag, 23. Juni, 17 Uhr, Kunsthaus Sans Titre, Französische Straße 18. Die Ausstellung läuft bis zum 28. Juli

Richard Rabensaat

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