Wolfgang Leonhard: Kind der Revolution
Sein Thema und Trauma: Als Alterswerk legt Wolfgang Leonhards auf 180 Seiten "Anmerkungen zu Stalin" vor.
Mittlerweile gibt es „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ auf 22 CDs sogar als Hörbuch. In seinem Erstlingswerk aus dem Jahr 1955 mit dem zum geflügelten Wort gereiften Titel beschreibt Wolfgang Leonhard seine Jugend- und Erwachsenenjahre als Emigrantenkind in Moskau und später in der SBZ im Banne der stalinistischen Sowjetunion bis 1949, als er zunächst ins „abweichlerische“ Jugoslawien Titos und später in die Bundesrepublik übersiedelte.
Das Thema – und Trauma – des Stalinismus hat Leonhard, den bald 88-jährigen Kreml-Experten, nie mehr losgelassen. Als Alterswerk legt er nun auf kleinformatigen 180 Seiten seine „Anmerkungen zu Stalin“ vor, die der Verlag als „glänzenden Essay“ bewirbt. Allein der Glanz will sich nicht recht einstellen, nicht so sehr wegen des „widrigen Gegenstandes“ – als den einmal Joachim Fest Hitler bezeichnete –, sondern weil Leonhard es ganz überwiegend bei einer kaum subjektiv angereicherten Darstellung vom Werdegang des Diktators belässt. Die späte Gewissheit, dass er der uneheliche Sohn eines Lenin-Vertrauten ist, den Stalin 1938 – wie Hunderttausende von Alt-Bolschewiki – erschießen ließ, erwähnt Leonhard nur beiläufig. Immerhin handelte es sich um den damaligen Sowjetbotschafter in Wien. Sogleich kehrt der Autor zum Gang der großen Ereignisse zurück. Es bleibt bei der schon im Erstlingsbuch pointierten Gegenüberstellung vom Unwissen und durchaus auch privaten Glück des Kinderheimbewohners und Schulkindes mit dem realen Alltag der Diktatur, die denen, die eben noch Spielkameraden oder Lehrer waren, den Mund verschließen – aus Angst, die nächsten Opfer zu werden. Und es bleibt, für immer, der Schock des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939, der die Antifa-Emigranten mit einem Federstrich ins politische Abseits befördert.
So weit, so gut; nur trifft Leonhards neues Buch auf Leser, die mehr von Stalin und seinem Terror wissen, als es 1955 der Fall sein konnte, da Leonhards Erstling zutiefst verstörte. Unüberschaubar ist die Zahl allein schon der Stalin-Biografien, deren Einzelheiten jede Vorstellungskraft hinsichtlich menschlicher Abgründe übersteigen, von den Forschungen zum Stalinismus als Herrschaftssystem ganz abgesehen. Insofern kommt Leonhards Essay spät – wenn auch nicht zu spät, um einer neuen, mit dem Schrecken des Stalin-Systems unvertrauten Leserschaft einen leichthändig, aber niemals seicht geschriebenen Einstieg in die historisch so komplexe Materie zu bieten.
Und so sieht es wohl der Autor selbst, betont er doch – als Klammer des Buches – in Vorwort und Schlussabsatz seine Sorge um die in Putins Russland erneut wachsende Verehrung Stalins „als Patriot und Garant nationaler Stärke“. Das aber komme „nicht nur einer Verhöhnung der Millionen Opfer gleich“, sondern bilde „auch eine politische Gefahr für die Gegenwart“. Denn: „Solange die Verbrechen Stalins nicht als Teil der eigenen Geschichte anerkannt werden, ist der Weg zu einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft in Russland nicht möglich.“ Das aber, wäre hinzuzufügen, ist nicht allein Stalins drückende Erblast, sondern die einer jahrhundertelangen Geschichte Russlands abseits von Recht und Freiheit.
Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin. Rowohlt Berlin, Berlin 2009. 191 Seiten, 16,90 Euro.
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