Horror-Serie „Squid Game“: Killen in Kindergarten-Kulisse
Die koreanische Netflix-Serie „Squid Game“ bricht gerade mit drastischer Gewalt alle Abruf-Rekorde. Warum eigentlich?
Der zählbare Blutzoll grausiger Fiktionen hat naturgemäß gehörigen Einfluss darauf, wie sie bei eingefleischten Fans so ankommen. Schon 1933 brachte „Der Unsichtbare“ beispiellose 105 Menschen um, also ungefähr doppelt so viele, wie im Tatort „Im Schmerz geboren“ 81 Jahre später starben.
Diesen Krimi-Rekord hatte Tarantinos „Planet Terror“ zwar schon lange zuvor vervierfacht; im Vergleich zur Zombie-Serie „The Walking Dead“ aber, wo Lebende wie Untote unverdrossen im Sekundentakt sterben, sind selbst gute 1000 Leichen der Horrorfilmreihe „Final Destination“ überschaubar.
Ein Blick auf die Eskalationsspirale im Schockmetier also zeigt: es ist gar nicht leicht, im Ranking rekordverdächtiger Body Counts ganz oben mitzumischen – außer man streckt wie der koreanische Regisseur Hwang Dong-hyuk in nur acht Minuten 255 Protagonisten nieder. Kopfschuss für Kopfschuss, Kunstblutfontäne für Kunstblutfontäne, Close-up für Close-up Alleinstellungsmerkmale einer Netflix-Serie, die es gerade aus dem Abseits früherer Bahnhofskinos ins Rampenlicht der Mainstreamunterhaltung geschafft hat.
[„Squid Game“, Netflix, erste Staffel mit neun Folgen]
„Squid Game“ lockt nämlich nicht nur Nerds, denen praktisch kein Gemetzel zu krass sein kann, vor die Flatscreens; mit 111 Millionen Kontoabrufen in vier Wochen hat Netflix damit den Startrekord des saftig-süßen Liebesreigens „Bridgerton“ förmlich pulverisiert und auch Publikumsmagneten von „The Crown“ bis „Haus des Geldes“ auf die Plätze verwiesen. Merkwürdig.
Denn was, bitte sehr, fasziniert Zuschauer weltweit eigentlich an einer Gewaltorgie, die selbst für belastbare Mägen schwer verdaulich ist? Ihre Handlung eher nicht …
456 Desperados in einem analogen Computerspiel
Seong Gi-hun (Lee Jung-jae) ist darin so tief gesunken, dass er seiner kleinen Tochter zum Geburtstag ein Pistolenfeuerzeug aus dem Greifarm-Automat zieht, nachdem er das Geld seiner alten Mutter beim Pferderennen verzockt hat – bis ihm ein Unbekannter die Teilnahme am titelgebenden Wettbewerb mit märchenhafter Gewinnsumme anbietet.
So landet er mit 455 weiteren Desperados in einer Art analogem Computergame, dessen Gewinner alles kriegt, die Verlierer hingegen leer ausgehen. Schlimmer noch: bereits beim Auftaktspiel werden sie mehrheitlich erschossen.
Mit jeder Runde schrumpft somit das Feld, bis alles auf einen Showdown jener Figuren hinausläuft, denen Hwang Dong-hyuk Biografien auf die geschundenen Leiber geschrieben hat.
Der hochverschuldete Unternehmer Sang-woo (Park Hae-soo), die stille Diebin Sae-byeok (Jung Ho-yeon), der greise Krebspatient Il-nam (Oh Young-soo), die mysteriöse Intrigantin Mi-nyeo (Kim Joo-ryung), der indische Armutsflüchtling Ali (Anupam Tripathi) – im Kreise namenloser Todeskandidaten sind sie die Lebenskonstanten eines Vernichtungsfeldzuges, der das Sterben vom Randaspekt zum Kernelement macht. Wie üblich eben im Horrorfach, dem Subgenres à la Torture Porn zügig die Hemmschwelle senken.
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Weniger üblich ist die hochauflösende Optik, mit der Netflix das Genre auf ein neues Level hebt. Wie Regisseur Hwang den spielerischen Exitus Hunderter Menschen im Ambiente einer bonbonbunten Teletubbies-Welt zelebriert, mag deshalb niedere Instinkte bedienen; Look & Feel dieser dystopischen Kindergarten-Kulisse ähnelt nur selten früheren B-Movies, als Russ Meyer dralle Frauen zu Killern dressierte und potenzielle Opfer vorm Irren mit Hackebeil stets treppauf geflohen sind. Beim „Squid Game“ versuchen sie hingegen erst gar nicht zu fliehen, im Gegenteil.
Verlierer der Leistungsgesellschaft
Die Verlierer der Leistungsgesellschaft setzen sich freiwillig der fatalen Willkür blickdicht uniformierter Schergen des unbekannten Spielleiters aus und kommentieren abseits der pornografischen Gewalt Südkoreas aseptische Kontrollgesellschaft, die alle Ungerechtigkeiten unterm Deckmantel selbstreferenziellen Konsums verdeckt.
Wer das Erfolgsgeheimnis der neun Episoden à 40 Minuten auf dieser Metaebene sucht, interpretiert aber wohl doch ein wenig zu viel in den Rekordabruf hinein. Tatsächlich ist die Ursache der Riesenzahl 111.000.000 profaner.
Vereinfacht ausgedrückt: Hype erzeugt Hype erzeugt Hype. Schließlich gilt Südkorea als Kulturnation der Stunde. Ein Land, das beneidenswert durch die Pandemie kommt. Ein Land, dem K-Pop in aller Welt Absatzrekorde beschert. Ein Land, dessen Filmindustrie vom gefeierten Alien-Horror „Save the Green Planet“ bis zum Oscar-Gewinner „Parasite“ Lorbeeren sammelt.
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Sobald ein koreanisches Netflix-Format erste Hürden der Aufmerksamkeitsökonomie nimmt, ist sein Weg zum globalen Click-Milliardär fast Formsache.
Und seien wir ehrlich: der Hang zum Grimassieren einer fortschrittsskeptischen Desperado-Geschichte, die Tom Toelles „Millionenspiel“ schon 51 Jahre zuvor erzählte, gepaart mit einer Synchronisation am Rande der Körperverletzung: ohne das Perpetuum Mobile einer entgrenzten Unterhaltungskultur, deren Treibstoff aus Herzchen, Likes, Verlinkung besteht, wäre „Squid Game“ ein ultrabrutales Streaming-Event für Slasher-Freaks und wir müssten uns nicht fragen, was die Leute wohl daran fasziniert, dabei zuzusehen, wie Menschen in Nahaufnahme ausgeweidet werden. Mögliche Antwort: wenn’s alle sehen, wird schon was dran sein.
Jan Freitag