Ein neuer Blick auf Willy Brandt: Kanzler in Kriegszeiten
Den Friedensnobelpreis bekam Willy Brandt für seine Ostpolitik. In seiner Nahostpolitik blieb er unter seinen Möglichkeiten, meint Michael Wolffsohn.
Verdunkelt sich das Bild vom Friedensbringer Willy Brandt, weil dieser 1973 den Jom-Kippur-Krieg hätte verhindern können, der die Existenz Israels bedrohte? Das Urteil von Michael Wolffsohn fällt eindeutig aus: „Er hätte es gekonnt“, urteilt der deutsch-jüdische Historiker in seinem neuen Buch "Friedenskanzler? Willy Brandt zwischen Krieg und Terror".
Das ist ein apodiktischer Satz, der dem Agieren des Politikers gegenüber Israel, den arabischen Staaten, den USA oder Russland nur schwer gerecht wird. Selbst wenn man Details, Aktenfunden und Analysen folgt, die der Autor ausbreitet, scheint ein anderes Urteil angemessener: Brandt hätte mit mehr Einsatz probieren können, diesen Krieg zu verhindern, den die deutsche Diplomatie lange nicht kommen sah oder nicht kommen sehen wollte. Aber dass mehr Bemühungen des deutschen Kanzlers den Überfall Ägyptens und Syriens auf Israel im Herbst 1973 tatsächlich verhindert hätten, ist eine Behauptung, die Wolfssohn nicht beweisen kann. Denn es lag nicht an Brandt, ob Ägypten mitspielen würde.
Die israelische Premierministerin Golda Meir hatte den sozialistischen Parteifreund aus Deutschland bei dessen Besuch in Israel im Juni 1973 eindringlich gebeten, Ägyptens Präsident Anwar as Sadat die Botschaft zu übermitteln, dass Israel Frieden wolle und dazu auch bereit sei, territoriale Zugeständnisse zu machen. Die Politikerin, die den Großmächten und erst recht der Uno nicht mehr traute, bat Brandt, sich persönlich der Sache anzunehmen, um mit Ägypten einen Friedensprozess einzuleiten.
Wolffsohns Beschreibung der Gespräche zwischen den beiden Politikern ist ein Beispiel dafür, wie ergiebig die Erforschung und Auswertung von Akten zweier Länder – in diesem Fall Israels und Deutschlands – sein kann. Es entsteht eine dichte Beschreibung der Begegnung zweier Menschen, deren Geschichte, Aufgaben und Erwartungen sehr unterschiedlich sind. Stellenweise liest sich das Buch wie ein Krimi. Am Ende mündet das Geschehen in Gewalt, in den Krieg.
Folgt man Wolffsohn, war Golda Meir trotz einer Vorgeschichte fortgesetzter Enttäuschungen durch Brandts Regierung fest entschlossen, ihm das Leben nicht schwer zu machen. Dieser Vorgeschichte widmet der Historiker eigene Kapitel. Darin geht es darum, dass Brandts berühmter Kniefall am Warschauer Mahnmal für die Oper des Ghettoaufstands von 1943 in Warschau eine „Entjudaisierung und Polonisierung der jüdischen Opfer“ der Nationalsozialisten mit sich brachte. Mit dem Überfall palästinensischer Terroristen auf israelische Sportler im olympischen Dorf im September 1972 waren die deutschen Sicherheitskräfte überfordert. Elf israelische Geiseln, fünf Attentäter und ein deutscher Polizist wurden ermordet oder starben beim Feuergefecht auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck. Die überlebenden Terroristen wurden schon bald freigepresst. Das deutsche Nachgeben entsetzte die israelische Gesellschaft, doch für deren Traumata war die Bonner Politik erschreckend unempfindlich.
Der Bitte Golda Meirs um Vermittlung mit Ägypten kam Brandt zwar nach, doch er überließ die Aufgabe Beamten des Auswärtigen Amtes, die sich vor allem wegen einer möglichen Verschlechterung der Beziehungen zu arabischen Staaten und in der Folge eines Stopps der Ölversorgung aus diesen Ländern sorgten und das israelische Angebot so eher ausbremsten. Auch der Wille, sich von Israel wegen der Last der Geschichte nicht erpressen zu lassen und die nach heutiger Vorstellung einzigartigen Beziehungen zu normalisieren, spielte in der Bundesregierung damals eine große Rolle, wie Wolffsohn aus den Akten zeigen kann. Womöglich aber unterschätzt der Autor ein Motiv Brandts, das er gleich mehrfach zitiert: Der fürchtete nämlich, sich mit einer Vermittlerfunktion zwischen Israel und Ägypten ohne die Großmächte zu übernehmen. Zur Erinnerung: Es dauerte fast 30 Jahre, bis sich ein deutscher Außenminister eine Art Vermittlerfunktion zwischen Israelis und Palästinensern zutraute. Das war Joschka Fischer, der zum Zeitpunkt des Terroranschlags auf die Diskothek Dolphinarium in Tel Aviv war und sich bemühte, eine Eskalation zu verhindern.
Willy Brandt jedenfalls machte Golda Meirs Auftrag nicht zur Chefsache; die Initiative versandete. Ganz neu ist das nicht, denn Wolffsohn hat wesentliche Thesen seines Buches schon in Zeitungs- und Fernsehbeiträgen verarbeitet. Trotzdem ist es beklemmend zu lesen, wie unsensibel die Bundesregierung reagierte, nachdem Ägypten und Syrien Anfang Oktober am höchsten jüdischen Feiertag Israel überfielen. Die Existenz des Staates stand auf der Kippe, doch während nach russischen Interventionsdrohungen auch ein Atomkrieg möglich schien, sorgten sich deutsche Diplomaten, dass US-Waffenlieferungen aus Deutschland arabische Staaten verärgern könnten.
Die Frage nach Brandts Handlungsspielraum leuchtet der Autor kaum aus. So misst er den Kanzler eher nach Maßstäben der Gegenwart als nach denen seiner Zeit. Dabei verankerte erst lange nach dem Krisenjahr 1973 der Historikerstreit 1986 den Gedanken der Singularität des Holocaust in der deutschen Öffentlichkeit. Weitere 22 Jahre dauerte es, bis Angela Merkel 2008 vor der Knesset die Existenz Israels zur deutschen Staatsräson erklärte.
Michael Wolffsohn:
Friedenskanzler?
Willy Brandt zwischen Krieg und Terror. Mit Beiträgen von Thomas Brechenmacher, Lisa Wreschniok und Till Rüger. dtv, München 2018. 176 S., 18 €.