Retrospektive: Joseph Beuys: "Die Revolution sind wir"
Der Hamburger Bahnhof entdeckt den Künstler Joseph Beuys als Philosophen neu.
Nur wenige Sekunden dauert der Film: Die erste Einstellung zeigt das alte Kino Biograph in Chicago, aus dem ein Mann mit wehendem Mantel stürzt und unter Schüssen zusammenbricht. Die zweite zeigt ihn stehend in einer Straßenschlucht. Bei seinem Amerika-Aufenthalt 1974 war Joseph Beuys für den kleinen Film in die Rolle des legendären Bankräubers Dillinger geschlüpft, der in den dreißiger Jahren genau vor jenem Kino gestellt worden war.
Es ist nur eine von vielen Figuren, die der Mann aus Kleve für die Öffentlichkeit spielte: Künstler, Lehrer, Politiker, Schamane. Aber am stärksten hat er sich wohl als Revolutionär eingeprägt. Kein Gangster wie Dillinger, der auf seine Art ebenfalls die herrschenden Verhältnisse nicht akzeptierte, aber ebenfalls ein outlaw in Kunstbetrieb und Gesellschaft.
Was ist geblieben vom Aufbruch?
„Die Revolution sind wir“ ist die große Beuys-Ausstellung im Hamburger Bahnhof überschrieben, in Anlehnung an jenes berühmte Plakat von 1971 aus Neapel, das den Künstler auf den Betrachter zuschreitend zeigt. In der für Beuys typischen krakeligen Schrift steht darunter geschrieben: La rivoluzione siamo noi. Was ist geblieben vom Aufbruch, dem Ideengebäude, den Impulsen, die der 1986 mit 64 Jahren verstorbene Künstler unermüdlich verbreitete? Die von Eugen Blume kuratierte Schau – eine der insgesamt zehn Ausstellungen zum Abschied von Peter Klaus Schuster, dem Generaldirektor der Berliner Museen – verbeugt sich nicht nur vor dem bedeutenden Bildhauer und subtilen Zeichner. Sie erweckt den Philosophen, Gesellschaftskritiker, Weltverbesserer mit zahllosen O-Tönen zum Leben.
Was der vor zwanzig Jahren von Beuys’ Sekretär Heiner Bastian im Martin-Gropius-Bau eingerichteten Schau fehlte, der ideologische Überbau, ist hier zu viel. Im Sinne des Künstlers interpretiert Blume die Beuyssche Rede, sein schier endloses Räsonieren, zur plastischen Form. Das leuchtet ein, nicht nur im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs und des Diktums „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Gerade Beuys’ Werk fehlte ohne das gesprochene Wort ein elementarer Teil. In der fast das ganze Haus ausfüllenden Retrospektive aber wird es zur Kakophonie. Der Redner Beuys gerät zur plappernden Puppe mit Hut. Der revolutionäre Anspruch, der appellative Charakter, der sich auch in den vielen Wandzitaten wiederholt, verpufft. Die Frage, was uns Beuys heute bedeutet, wird zugeredet.
Der Saal mit der riesigen Skulptur „Unschlitt / Tallow“ symbolisiert regelrecht diesen Ausstellungskonflikt: Die wächsernen Brocken demonstrieren einerseits eindrucksvoll Beuys’ abstrakte Gestaltungskraft. Andererseits sind sie ein konkreter Versuch, den unwirtlichen Städten Menschlichkeit und Wärme zurückzugeben, denn die Blöcke sind der Abguss einer Fußgängerunterführung in Münster. Dem monumentalen Arrangement ist ein Video hinzugefügt, das Beuys von hinten zeigt, wie er einer Wand sein Gesellschaftsmodell erklärt. So viel Pathos und gleichzeitig Entmutigung war nie.
Meese und Schlingensief fühlten sich inspiriert
Und doch interessiert sich eine jüngere Generation von Künstlern und Kunsthistorikern für diesen Einzelkämpfer, von dessen Performances sich Jonathan Meese oder Christoph Schlingensief inspiriert fühlten. Nach ihnen durchforsten nun die Juristen und Volkswirtschaftler sein Werk auf Anregungen. „Das was am meisten nach Gestaltung drängt, sind nicht die Bilder oder die Skulpturen, die gemacht werden müssen, sondern das Geld,“ wäre eine solch brauchbare Thesen in Zeiten der Bankencrashs. Zu den schönsten Sälen zählt der Raum mit den „Wirtschaftswerten“, jenes über Eck gestellte Regal mit trostlosen DDR-Verpackungen für Reis, Mehl und Waschmittel. Dazu läuft Charlie Chaplins „Goldrausch“ als Film, unter Glasstürzen befindet sich Beuys Lektüre zur Ökonomie.
Die mit 270 Werken bestückte Schau, darunter Leihgaben aus Amsterdam, New York und Bilbao, wiederholt in ihren 15 Kapiteln in immer neuen Versionen die Kombination aus monumentaler Skulptur, auf dem Bildschirm gesprochenem Wort und Vitrinen mit Skizzen, Fotografien und Schriften, die den Künstler inspirierten. Der große Auftritt wird stets heruntergebrochen und verliert sich im Kleinklein der Dokumente und Zitate. Gerade an diesem Ungleichgewicht leidet die Schau, schon auf den ersten Blick. Ausgerechnet das Entree, die Eisenbahnhalle, wird verschenkt. Die „Honigpumpe“, „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“, die „Richtkräfte“ und „Grond“ stehen viel zu dicht gedrängt. Selbst der in einem Kubus inmitten der Halle separierte „Palazzo Regale“, den Beuys in Neapel wenige Wochen vor seinem Tod schuf, wirkt kaum noch wie ein Königsgrab. Die Vitrine mit dem Luchsfellmantel und dem Tritornshorn sowie die sieben Goldtafeln an der Wand quetschen sich in eine kleine Kammer.
Um sich selbst einen Mythos generiert
Wie kaum ein anderer Protagonist passt Beuys in den Ausstellungsreigen „Der Kult des Künstlers“. Er selbst hat um sich einen Mythos generiert, der es bis heute erschwert, sich seiner Kunst ohne ihn als Überfigur anzunähern. Die Ausstellung im Hamburger Bahnhof versucht diese beiden Seiten von Beuys wieder zu versöhnen, indem sie sein Weltbild, seine Bezugsquellen bei Karl Marx, Rudolf Steiner und Carl Weber, sein Bemühen um Wiedergutmachung wie beim Monument für Auschwitz dokumentiert.
Diese Bandbreite, der universale Anspruch, den sich Beuys bei Leonardo da Vinci abschaute, fasziniert gerade im Zeitalter zusammenbrechender globaler Märkte und weltweit auswirkender Naturkatastrophen wieder neu. Tatsächlich könnte die Berliner Schau eine neue Phase der Beuys-Rezeption eröffnen, selbst ohne das Brimborium um den Künstlerkult. Für Beuys, den Revolutionär, wird es zwar keine Wiederkehr geben und auch sein Werk durch diese Ausstellung keine Wertsteigerung auf dem Markt erleben, aber sein Querdenken könnte doch auf andere Ideen bringen. Zum Beispiel in der Politik, die gerade die Kultur für sich neu entdeckt.
Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50/51, bis 25. 1.; Katalog (Steidl) 49 €
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