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Lebenslänglich oder Freispruch? Die Zuschauer entscheiden über das Urteil und das Ende von "Terror", das am Hans Otto Theater Premiere feierte.
© HL Böhme

Premiere von "Terror" am Hans Otto Theater Potsdam: In der Arena der Zivilisation

Mit der Inszenierung von Ferdinand von Schirachs „Terror“ am Hans Otto Theater müssen sich die Potsdamer selbst fragen, wie weit sie zum Grundgesetz stehen. Jetzt feierte das Stück am HOT Premiere.

Potsdam - Niemand wäre gerne Lars Koch. Aber jeder wünscht sich, dass es ihn gibt. Einen, der im schlimmsten anzunehmenden Fall handelt. Der Tausende Menschenleben rettet. Und dafür knapp hundert tötet. Das ist vernünftig, rational. Weniger Tote, weniger Leid. Das gebietet die Moral. Oder? Lars Koch ist die Hauptfigur in Ferdinand von Schirachs erstem Theaterstück „Terror“. Es wird gerade deutschlandweit an Theatern inszeniert, jetzt – Premiere war am Freitag – auch am Hans Otto Theater (HOT). Andreas Rehschuh führt hier Regie.

„Terror“ ist überall, weil seine hypothetische Frage gerade so praktisch relevant wird. Viele in Europa haben jahrelang die USA belächelt oder gehasst ob ihrer Post-9/11-Hysterie, dem Krieg gegen den Terror. Jetzt, nachdem der in Paris, in Brüssel und in Deutschland stattfindet, müssen auch wir ernsthaft über unbequeme Fragen nachdenken.

Wie eben die Lehrbuchfrage nach dem entführten Flugzeug. Genau die hat sich von Schirach ausgesucht. Eine Lufthansa-Maschine auf dem Weg von Berlin nach München. Entführt von einem al-Qaida-nahen Islamisten. Auf dem Weg nach München ist sie weiterhin, nur steuert sie jetzt auf die mit 70 000 Menschen voll besetzte Allianz-Arena zu.

„Wir sind ausgebildet, die Bevölkerung zu schützen“

„Wir haben ständig über diesen Fall diskutiert, in der Truppe“, sagt Lars Koch, am HOT gespielt von Jonas Götzinger. Er ist perfekt für die Rolle, er ist in seiner steifen Uniform alles, was wir in ihm sehen sollen. Idealistisch, integer. Koch ist ein junger, sehr kluger Mann, der viel nachgedacht hat und der es sehr früh in den Job geschafft hat, an dem Tausende scheitern. Er ist sich der Verantwortung bewusst. „Wir sind ausgebildet, die Bevölkerung zu schützen“, schreit er den Richter an.

Das ist das Setting. Es gibt nur einen Handlungsort. Den Gerichtssaal. Denn Lars Koch hat – gegen den Befehl der Verteidigungsministerin – die Maschine abgeschossen. Im letzten Moment, ganz kurz vor der Arena. Deswegen ist er jetzt angeklagt. Mord in 164 Fällen. Die Frage, auf die es im Stück hinausläuft – und die die Zuschauer am Ende mittels Hammelsprung entscheiden müssen – ist: Freispruch oder lebenslänglich. In Deutschland ist Terror inzwischen an 39 Theater aufgeführt worden, 459 Vorstellungen. 429 Mal hat das Publikum Lars Koch freigesprochen.

Leider muss man sagen: Auch in Potsdam leben keine besseren Demokraten als im Rest der Republik. Leben Menschen, die den ersten Satz unserer Verfassung nicht verstanden haben und auch nicht, warum nach der Erfahrung des NS-Terrors und der Schoah kein anderer Satz da stehen darf: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Er muss da stehen, damit Menschen eben nicht wieder zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werden können. Andrea Thelemann macht das als Staatsanwältin in ihrem Schlussplädoyer ganz greifbar – ohne sich auf die deutsche Vergangenheit zu beziehen. Dass es darum geht, uns als Menschen vor uns selbst zu schützen, vor dem, was Hannah Arendt mit der Banalität des Bösen beschrieb, ist ohnehin klar.

Wie viele Gerette wären genug?

Das Grundgesetz sagt: Ein Leben ist unendlich viel wert. Deshalb kann man Menschenleben nicht gegeneinander aufwiegen. Zweimal unendlich ist nicht mehr als einmal unendlich. Bei 70 000 zu 164 scheint der Fall dem „gesunden Menschenverstand“ klar. Aber es gibt andere Fälle, die das Dilemma deutlicher machen: Darf ein Kranker getötet werden, um zwei, vier, sechs weitere Kranke mit seinen Organen zu retten? Wie viele Gerettete wären genug?

Unsere Moral ist keine verlässliche Größe. Sie trügt. Das macht Thelemann klar. Sie ist fantastisch als Staatsanwältin: nüchtern und sachlich, trotzdem warmherzig. Keine penible Paragrafenreiterin, sondern jemand, der an das Recht glaubt, aus Liebe zur Menschheit. Und genauso ist Jonas Götzinger der ideale Soldat. Einer, dem man sein Leben gerne anvertraut. Der nicht blind Befehle be-, sondern seinem inneren Kompass folgt. Stellvertretend für alle Soldaten, die Entscheidungen treffen, vor denen wir anderen uns gerne drücken – und uns dann viel auf unsere Moral, unsere hohen ethischen Ansprüche einbilden –, fühlt man mit ihm. Man will ihn beschützen. Weil er doch alles richtig gemacht hat.

Das Menschliche blitzt durch

„Hätten Sie auch geschossen, wenn Ihre Frau und Ihr Sohn in der Maschine gesessen hätten?“, fragt ihn Bernd Geiling, der den Richter spielt. Das ist der erste Hinweis: Richtig kann hier nichts sein. Götzinger windet sich. „Dazu will ich keine Aussage machen.“ Gerling lässt ihn. Die Schauspieler lassen das Menschliche durchblitzen in diesem nüchternen, grell ausgeleuchteten, blendend weiß möblierten Raum, der sich wie ein Schacht nach hinten verjüngt. Die ganze Bühne (Andreas Rehschuh) läuft auf einen tief im Raum liegenden Fluchtpunkt zu. Aerodynamisch, irgendwie.

Es gibt noch weitere Stolpersteine. Warum, fragt die Staatsanwältin, wurde das Stadion nicht geräumt? Das hätte laut Notfallplan nur 50 Minuten gedauert. Das entführte Flugzeug hätte in ein leeres Stadion stürzen können. Die Passagiere wären trotzdem tot gewesen. Aber nicht getötet durch den Staat, der sie schützen muss. Sie wären, wir sind wieder bei der Würde des Menschen – nicht Objekt staatlichen Handelns geworden.

Über das kleinere Übel

Es ist eine der drastischen Schwächen des Stücks, dass dieser Punkt nicht weiter verfolgt wird. Die Tatsache nämlich, dass die Stabsleitung offenbar schlicht vergessen hat, an diese Möglichkeit zu denken. Weil sie, wie Geiling leicht aggressiv bemerkt, davon ausgegangen ist, dass Koch schon handeln würde. Weil es, wie Kochs Anwalt (Florian Schmidke) sagt, eben das kleinere Übel ist. Und weil doch jeder Mensch – zumindest aber sein Mandant – über die moralische Kraft verfüge, das zu erkennen.

Das Problem mit Moral, mit dem kleineren und dem größeren Übel aber ist: Das sind dehnbare Kategorien. Die Nazis behaupteten, es sei das kleinere Übel, die Juden auszurotten – um das deutsche Volk „zu retten“. Den alten Römern schien es legitim, dass sich Menschen zu ihrem Vergnügen in der Arena abschlachten. Die christlichen Kreuzritter hielten es für das Richtige, Ungläubige zu töten. Das glauben die Islamisten auch. Sie müssen bekämpft werden. Aber nicht, indem wir uns ihrer Logik anschließen und in moralischen Kategorien denken. Weder Staaten noch der Einzelne sind frei von eigenen Interessen. Auf das Gute in uns zu vertrauen, ist deshalb ein Zeichen unendlichen Hochmuts.

Weitere Vorführungen am 22. und 27. Oktober, am 1., 13. und 25. November. Eine Verfilmung des Stückes mit Martina Gedeck und Lars Eidinger ist am Montag, 17. Oktober, um 20.15 Uhr in der ARD, mit Live-Abstimmung, zu sehen.

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