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In den "Bloodlands": Deutsche Wehrmachtssoldaten 1941 im ukrainischen Ljuboml.
© Mauritius Images

Timothy Snyder über Vorrausetzungen von Völkermord: Im Strudel zerfallender Staaten

Der Holocaust kann sich wiederholen, schreibt der Historiker Timothy Snyder in seine Buch „Black Earth“. Eine Rezension

Wir haben aus der Geschichte gelernt. Das ist weniger eine Feststellung als ein Glaubenssatz, geradezu ein Begründungssatz für Nachkriegsdeutschland. Die im Laufe der Jahrzehnte immer stärker gewordene Verurteilung des NS-Völkermords hat die Überzeugung befestigt, dass „es“ – jedenfalls hierzulande – nicht wieder geschehen könne. Ob „es“ aber überhaupt nicht noch einmal geschehen könne, ist nicht weniger sicher. Das jedenfalls ist die Befürchtung, die dem neuen Buch von Timothy Snyder zugrunde liegt. Den Titel „Black Earth“ mochte der Beck Verlag nicht einmal mehr übersetzen, wohl, damit er an Snyders weltweit erfolgreiches Buch „Bloodlands“ anschließt. Darin hatte der in Yale lehrende Historiker eine neue, raumbezogene Perspektive der Geschichte Osteuropas entworfen und darauf aufmerksam gemacht, dass Gewalt sich in einem von ihr beherrschten Gebiet dynamisch verstärkt und ihre Urheber zumindest aus der Sicht der Opfer ununterscheidbar werden.

Snyder wagt eine neuartige Interpretation der Gedankenwelt Hitlers

Snyder ist für die Zusammenschau der Gewalt von NS-Regime und Stalin-Diktatur heftig kritisiert worden, doch in der Geschichtswissenschaft gewinnt eine solche Sicht auf die Eigendynamik der nicht einfach auf politische Strategien rückführbaren Gewalt an Gewicht. So jedenfalls argumentierte Christian Gerlach in seinem Buch „Extrem gewalttätige Gesellschaften“ (2010), und das neue Buch des Sowjet-Experten Jörg Baberowski („Räume der Gewalt“) weist in dieselbe Richtung. Snyder wendet sich nunmehr dem Holocaust zu, den er gleichfalls räumlich verortet. Über dem Stereotyp vom „industrialisierten Massenmord“ wird verkannt, dass bereits über eine Million Juden in Osteuropa ermordet worden waren, ehe die systematische Tötung in den Konzentrationslagern begann. Indem Snyder die Ideologeme von „Lebensraum“ – gleichbedeutend mit Kolonisierung des Ostens – und „Weltjudentum“ – gleich Ausrottung einer als „Rasse“ definierten Bevölkerungsgruppe – miteinander verzahnt, gewinnt er Einsicht in die NS-Politik, die sich in Osteuropa und nur dort zum Holocaust steigern konnte. Dass jedoch in der Verengung auf den Völkermord an den Juden der an den slawischen Völkern – ausgeführt besonders an russischen Kriegsgefangenen – übergangen wird, ist eine Schwäche des Buches.

Snyder wagt eine neuartige Interpretation der Gedankenwelt Hitlers. Verstörend ist Snyders Gebrauch des Begriffs „Ökologie“. Er definiert: „Ökologie war Knappheit, und Dasein bedeutete Kampf um Land.“ Was er im Folgenden liefert, ist eine Kurzfassung der Ideologie des Sozialdarwinismus, den Hitler auf die Spitze trieb. Snyder spitzt ebenso zu, wenn er schreibt: „Hitlers Rassenkampf war angeblich wissenschaftlich beglaubigt, doch den Gegenstand, um den es dabei ging, war ,das tägliche Brot‘.“ Der Missbrauch der Wissenschaft ist, erstaunlich genug, der Kern, den er der Konsequenz aus Hitlers Ideologie auszumachen meint. Die Allmacht jüdischen Denkens, die Snyder im Folgenden ausmalt, erscheint wie eine Spiegelung der Hitler’schen Obsession. So richtig es ist, die Phantasmagorien des Mannes aus Braunau aufzuzeigen und, wie Snyder es unternimmt, aufzudröseln, so wenig ergeben sie bereits eine Analyse der NS-Herrschaft, deren wenigste Vollstrecker sich jemals in die Gedankenwelt des „Führers“ hineinversetzten. Allerdings kommt Snyder dadurch zu Einsichten, die gängigen Darstellungen des Nationalsozialismus abgehen; etwa über die herausragende Rolle, die die von Großbritannien erzwungene Hungersnot in Deutschland 1916/18 für Hitlers Denken und spätere Politik spielen sollte. Hitlers Leugnung einer jeglichen, wissenschaftlich errungenen Steigerung der Nahrungsmittelproduktion legitimierte seine „Lebensraum“-Politik. „Natur“ blieb für Hitler die unwandelbare Konstante, an der er seine Politik ausrichtete.

Er räumt mit der Legende auf, die Bolschewiki seien „jüdisch“ gelenkt gewesen

Das ist das eine; das andere ist die Zerstörung staatlicher Strukturen in den im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht überrollten Gebieten. Das zeigt Snyder insbesondere an Polen, demjenigen Staat, der der Interessengemeinschaft von NS-Regime und Stalin-Diktatur im Wege stand. Als die drei Millionen Soldaten zum Angriff auf die Sowjetunion „antraten, sammelten sie sich in einem Polen, das die Nationalsozialisten seit zwei Jahren kolonisierten und terrorisierten. In diesem Land … war das Unterste zuoberst gekehrt worden: Seine Juden hatte man gedemütigt und ghettoisiert, die übrige Bevölkerung einer improvisierten Anarchie der nackten Ausbeutung ausgeliefert“. Und das führt zu dem für Snyders Argumentation zentralen Ereignis: „Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion bedeutete die Zerstörung eines Staatsapparates, nämlich des neuen sowjetischen, nachdem unmittelbar zuvor ihrerseits die Sowjets andere Staatsapparate zerstört hatten, nämlich die der unabhängigen Staaten der 1920er und 1930er Jahre. Ein doppelter Einmarsch von Großmächten wäre schon schlimm genug, aber doch nicht beispiellos gewesen. Eine derartige doppelte Staatszerstörung jedoch war etwas völlig Neues.“

Timothy Snyder: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. Aus dem Englischen von Ulla Höber, Karl Heinz Siber, Andreas Withensohn. C.H. Beck Verlag, München 2015. 488 Seiten, 29,95 Euro.
Timothy Snyder: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. Aus dem Englischen von Ulla Höber, Karl Heinz Siber, Andreas Withensohn. C.H. Beck Verlag, München 2015. 488 Seiten, 29,95 Euro.
© C.H.Beck

Interessant sind Snyders Betrachtungen zum Wandel der Sowjetdiktatur unter Stalin, so die Anmerkung, dass im Zuge des „Großen Terrors“ der Anteil jüdischer Funktionäre im NKWD von 40 auf unter vier Prozent fiel und sodann bestens einsatzfähig war: „Dieser transformierte NKWD, der morderfahren, von Stalin gedemütigt und russifiziert war, wurde nach dem sowjetischen Einmarsch in Ostpolen am 17. September 1941 auf die polnischen Eliten und Institutionen losgelassen.“ Snyder räumt mit der Legende auf, die Bolschewiki seien „jüdisch“ gelenkt gewesen: „Die Verstrickung so gut wie aller ins Sowjetsystem, also die politische Realität, ließ sich so auf die Vorstellung von ein paar schuldigen Juden reduzieren, auf eine politische Fantasie.“

Es kam die Beseitigung jeglicher staatlichen Autorität, mit der unmittelbaren Auswirkung auf jüdische Bürger: „Für die Juden selbst bedeutete die Existenz eines Staates Bürgerrechte.“ Staatsangehörigkeit bedeutete die rechtliche Möglichkeit, außer Landes zu gehen. Diese Ordnung ging spätestens 1941 unter. „Der zweifache Anschlag auf staatliche Institutionen in den baltischen Staaten und in Ostpolen, zuerst durch die Sowjetunion 1939 und 1940, dann durch die Nationalsozialisten 1941, schuf das besondere Experimentierfeld, auf dem die Vorstellungen von einer ,Endlösung‘ zur Praxis des Massenmords wurden“, bilanziert Snyder. „Die Massenerschießungen des Holocaust rückten immer weiter in den Osten, nach Weißrussland, in die Ukraine und bis nach Russland, so weit die Macht der Deutschen reichte. Dann schwappte die Strategie der totalen Vernichtung zurück in Richtung Westen, in die Gebiete, welche die Deutschen vor dem finalen, entscheidenden Konflikt mit der UdSSR 1941 erobert hatten.“ Seine These unterfüttert Snyder mit dem Gegenbeweis: „Der Holocaust konnte sich nur dorthin ausbreiten, wo die Staaten geschwächt waren, aber nicht weiter.“ Das ist, denkt man an die Kollaboration etwa des Vichy-Regimes in Frankreich, wohl etwas holzschnittartig; und erst recht für Ungarn im mörderischen Sommer 1944 kann davon nicht die Rede sein. Snyder mildert seine These denn auch insoweit ab, als er erklärt, „wo die politischen Strukturen standhielten, gewährten sie denjenigen Unterstützung und Bewegungsspielraum, die den Juden beistehen wollten“.

So verläuft sich Snyders Analyse im Laufe des Buches immer mehr in die pessimistische Einschätzung der menschlichen Natur, „wenn Staaten zerstört, lokale Institutionen korrumpiert und Marktanreize auf Mord ausgerichtet wären, würden sich nur wenige von uns anständig verhalten“. Snyder erzählt viele Einzelschicksale und Episoden, getreu der amerikanischen Tradition, Geschichte zu personalisieren und Emotion zu erregen, wo die bloße Ratio zu nüchtern erschiene. Am Schluss wird sein Buch zum politischen Pamphlet, das die Ideologie der Nazis und speziell Hitlers mit der gegenwärtigen Furcht vor kommenden Katastrophen parallelisiert: „Wenn sich am Horizont eine Apokalypse abzeichnet, scheint es sinnlos zu sein, auf wissenschaftliche Lösungen zu warten, dann muss natürlich gekämpft werden, dann kommt die Stunde der Blut-und-Boden-Demagogen.“ Kann „es“ nochmals geschehen? Womöglich ja. Womöglich immer.

– Timothy Snyder: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. Aus dem Englischen von Ulla Höber, Karl Heinz Siber, Andreas Withensohn. C.H. Beck Verlag, München 2015. 488 Seiten, 29,95 Euro.

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