Kultur: Im Reich der Quinte
Mit dem „Q3AmbientFest“ eröffnet die fabrik an diesem Wochenende ein Festival für neue Klassik
So zart. So hell. Pling. Erst ein Ton, dann zwei. Eine glasklare Quinte. Das Anfängerintervall aller Klavierschüler, fünf Töne, Daumen und kleiner Finger, leicht zu merken. Die Terz gäbe ihr Fülle, eine Neigung, Moll oder Dur. So aber schwebt die Quinte alleingelassen vor sich hin. „Man kann auch mal auf eine reine Quinte hören“, sagt Sebastian Selke. „Und sich in der Schönheit der Töne verlieren.“
Genau das passiert auf dem neuen Album von Ceeys, dem Klavier- und Cello-Duo von ihm und seinem Bruder Daniel Selke. Aus Cello und Keys wurde vor einigen Jahres Ceeys. Ein Musikprojekt der neuen Klassik, ein noch relativ junges Genre. Nicht etwa, weil es das zuvor nicht gegeben hätte, sondern weil es sich erst seit Kurzem als eigenständige Musikrichtung versteht. Jetzt wollen die Selke-Brüder die neue Klassik nach Potsdam holen und haben dazu ein Festival organisiert, das „Q3AmbientFest“ für experimentelle moderne Klassik, das heute und morgen in der Fabrik stattfindet.
Die Künstler der Neoklassik sehen sich in der Tradition klassischer Musik, sie nutzen deren Kompositionswerkzeuge. Sie schöpfen aus dem Klassikbaukasten und machen etwas Neues daraus. Von dem definierten Genre der „Neuen Musik“ wollen sie sich indes abgrenzen. Zu schräg, zu experimentell, sagen sie. „Wir sind natürlich auch experimentell, aber zugänglich“, fasst es Sebastian Selke zusammen. „Experimental and accessible.“
Die Musik klingt manchmal wie ein meditatives Tantra, das sich ins Gehör bohrt und manchmal wie ein Tatortsoundcheck. Sie arbeitet mit akustischen Instrumenten, Umgebungsgeräuschen, mit Stimme und viel Elektronik. Sie ist ein Musikhybrid, der gut in die heutige Welt passe, sagt Sebastian Selke. Ganz besonders nach Potsdam, in das Spannungsfeld, das Nebeneinander von Alt und Neu inklusive so mancher Überspitzung. „Potsdam ist genial, hier gibt es alles, Platte und Sanssouci. Das hat Berlin Hellersdorf eben nicht. Da gibt’s nur Platte.“
Und doch hat genau dort die Geschichte von Ceeys begonnen. In den 1980ern wachsen die Brüder dort auf. Es ist ein musischer Haushalt, sie gehen zur Musikschule und üben in ihren Kinderzimmern, bis die Nachbarn an die Heizungsrohre klopfen. Wenn sie mal zufällig zur selben Zeit Tonleitern spielen, lauschen sie aufeinander. Passt das eventuell zusammen? Entwickelt sich auf dem Flur ihrer Hellersdorfer Plattenwohnung vielleicht ein gemeinsamer Klang?
Der findet sich auch auf dem Album „Concrete Fields“, ein Klangmenü zwischen Beton, Leere und Leben. Man hört die Quinte wie ein nächtliches Echo, von Wand zu Wand, von Flucht zu Flucht, man hört das Knistern von Gardinen und den Träumen dahinter, das summende Leben. „Wir wohnten in einem Fünfgeschosser, besonders deprimierend“, sagt Sebastian Selke. Aber natürlich wollen sie die Platte nicht per se verteufeln. „Wir hatten hier damals eine ganz normale Kindheit, Schule und Freunde.“ Diese ganz verschiedenen Facetten ließen sie in die Musik der CD einfließen, nach dem Prinzip „Offenheit durch Limitierung“, sagt Daniel Selke. In der Limitierung der Platte liege eben auch die Chance auf ganz viel mehr. Wenn man es zulässt, wenn man es kommen lässt.
Beide studieren später Musik und beginnen eigene berufliche Laufbahnen, Sebastian Selke spielt seit elf Jahren im Filmorchester Babelsberg, sein Bruder unterrichtet jetzt an der städtischen Musikschule Potsdam. Immer wieder kommen sie für gemeinsame Projekte zusammen. „Aber die Kammermusik war nicht zu 100 Prozent unsers“, sagt Sebastian Selke.
Weil im Plattenschrank der Eltern auch Alben von Vangelis und Tangerine Dream stehen, ist ihr Fenster zur Elektronik längst offen. Inspiration liefert anfangs vor allem Nils Frahm, Komponist und Solokünstler aus Hamburg, der die Entwicklung der Neoklassikszene maßgeblich prägte.
Noch gibt es erst wenige Plattformen, wo sich diese trifft, eine ist das Festival Ambient in Köln. Aber das sei für dieses Jahr abgesagt worden. Warum also nicht Potsdam, fragten sich die Selkes. In der fabrik freute man sich über die Idee, es könnte gut und gerne ein jährliches Festival daraus werden, sagt Laurent Dubost. Eine „Chance für Potsdam“, sich in der Szene fest zu etablieren. Der Name ist schon mal auf den Osten abgestimmt: Q3A steht für einen DDR-Plattenbautyp, Querwandtyp 3 Variante A. Ambiente.
Die Gästeliste des Festivals ist international. Sie haben den Filmkomponisten Stefano Guzzetti nach Potsdam geholt, Kinbrae aus Schottland und John Metcalfe, den Produzenten von Coldplay, Peter Gabriel und Blur. Aus Sydney kommt die Pianistin Sophie Hutchings, aus Japan die Musikerin Midori Hirano, aus den USA die Soundkünstler Jeremy Young & Shinya Sugimoto. Und Ceeys.
Beide Musiker zogen vor einem halben Jahr aus Berlin nach Potsdam und bauen sich hier ein Tonstudio auf. Der Altbau im Behlert-Gutenberg-Karree nahe Heiligem See ist ihre Soundmachine, ihre Quelle, die sie besonders nachts anzapfen. Fenster öffnen, lauschen, mitspielen, aufnehmen. „Es gibt hier nachts viele Geräusche von Tieren, Fuchs, Marder, viele Vögel.“ Zum Verarbeiten nutzen sie gerne alte DDR-Elektrotechnik, Mischpulte so groß wie Panzer und ein Matador-E-Piano – Stromfresser mit tollem Klang. Dann wird lange geprobt und alles in einem Ritt aufgenommen. So entstehe der Eindruck einer Liveaufnahme. Unbereinigt. Unmittelbar. Das Wesentliche, mehr nicht. Eine Quintessenz. Steffi Pyanoe
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