Kultur: Im Rausch der Gewalt
Szczepan Twardoch las bei Wist aus „Der Boxer“
Jakub Shapiro, der umjubelte jüdische Boxer von finsterer Schönheit, hat gerade einen Mann umgebracht. Im Namen von Warschaus Unterweltpaten Jan Kaplica, seinem Vorgesetzten, hat er den Autor Zielinski aufgesucht und erledigt. Die Zeitung hatte einen Artikel von Zielinski abgedruckt, in dem von nötigen Zwangsarbeitslagern für Juden die Rede war. Nun liegt der tote Körper des Autors im Kofferraum und Shapiro lenkt den Wagen, in dem auch seine Mitstreiter sitzen. Bis er plötzlich abbremsen muss. Denn er ist wieder da, direkt über ihnen: Der Pottwal namens Litani, massig und schwer, schwebt mit entflammtem Auge, einem Drachen gleich, über den Gangstern. Wie die Schuld begleitet er sie, ist immer da, genauso wie ihre blinde Sucht nach Rache.
„Der Pottwal drückt das aus, was ich als Autor nicht formulieren kann“, sagte Szczepan Twardoch am Dienstagabend bei der ausverkauften Lesung zu seinem jüngsten Roman „Der Boxer“ im Literaturladen Wist. Einige Gäste schauten etwas verwundert, weil der Schriftsteller sich auch bei der Frage nach der Bedeutung des Wals nicht konkreter ausdrücken wollte. Wer sich von dem Roman bis auf seine letzten Seiten mitreißen lässt, weiß den Grund für Twardochs Wortkargheit: Zu schade wäre es, frühzeitig aufzulösen. Einen Hinweis gibt die dem Werk vorangestellte Frage „Wer ist denn kein Sklave?“, adaptiert von Herman Melville, Autor von „Moby Dick“.
Um die Unterwelt Warschaus von 1937 so scharf und detailliert und im selben Zuge dem Milieu getreu so undurchsichtig und zwiespältig beschreiben zu können, hat Twardoch sich belesen. Er habe das aufgesogen, was andere mühsam rekonstruiert hätten, scherzte er bei Wist, selbst im Anzug gekleidet, mit dünnem Oberlippenbärtchen und gescheitelten Haaren – seinen Romanhelden im Äußeren durchaus ähnlich. Die fiktive Geschichte um Shapiro, der im Ring für die jüdische Gesellschaft zum Helden wird, als er einen katholischen Faschisten besiegt, der aber als Mitglied einer Unterweltorganisation skrupellos Familienväter ermordet – ob nun katholisch, jüdisch oder faschistisch –, ist an historische Begebenheiten angelehnt. Die Kulisse bildet die Gründung der sogenannten Zweiten Polnischen Republik. Seine Ehefrau versucht, Shapiro immer wieder zu überreden, in einen Kibbuz auszuwandern und bei der Gründung des Staates Israel zu helfen. Doch das lehnt er ab. Er befindet sich in einem Rausch von Waffen, Drogen, Autos, Sex und Gewalt. Twardoch zieht den Leser gleich mit in diesen Sog, der Gräueltaten zu relativieren scheint, der den Helden dazu berechtigt, zu rauben, zu morden, wie ein Tier zu ficken. Schließlich ist er im nächsten Moment wieder herzlich seiner Gemahlin und seinen Kindern gegenüber und auch so väterlich zu dem allwissenden Erzähler, den er – so scheint es – als Jungen unter seine Fittiche nahm, nachdem er seinen Vater geviertelt hatte.
Ob Shapiro wirklich Mitleid bewegt, erfährt man erst spät. Er habe dem Leser so einige Fallen gestellt, sagte Twardoch. Für ihn sei es ein Buch über Verantwortung und Schuld. „Ich möchte zeigen, wie schwach die Starken sein können.“ Am Ende bringe Shapiro kein Schlagring, kein Chrysler Imperial, keine Browning irgendetwas. Ob man seinen Romanhelden eine Dostojewski-Figur nennen könne, fragte Carsten Wist, Inhaber der Buchhandlung. Nein, seine Figuren seien alle Twardoch- Figuren.Helena Davenport
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