Politische Literatur: Im Jahr des Terrors
Ein Jahrhundertwerk: Wolfgang Templin über Karl Schlögels präzise Vermessung des Jahres 1937 in Stalins Sowjetunion.
"Aurora sprach ihr feuriges Wort“ – mit den Schüssen des Panzerkreuzers Aurora und dem Sturm auf das Winterpalais ließ die kommunistische Legendenbildung in Russland eine siegreiche soziale Revolution beginnen, die in ferner Zeit Menschheitsträume erfüllen sollte. In Wirklichkeit setzte der erfolgreiche Putsch der kommunistischen Bolschewiki im Oktober 1917 eine Dynamik organisierten Massenterrors frei, welcher die Geschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitprägte.
Doch in all den Schrecken, die auf dieses Ereignis folgten, ragt das Jahr 1937 noch einmal dramatisch heraus: Innerhalb weniger Monate wurden an die zwei Millionen Menschen verhaftet, mehr als 700 000 davon ermordet, fast 1,3 Millionen in Lager und Arbeitskolonien verschleppt. Die Landkarte des Lagersystems bekam immer weitere Einträge. Bis in das Folgejahr schlug die höchste Welle der Tötungsexzesse hinüber. „Genosse Terror“ sprach sein blutiges Wort nicht nur und in erster Linie gegen die alten Parteigänger, sondern gegen ungezählte einfache, nicht der KPdSU zugehörige Menschen, die nach sozialen und ethnischen Kriterien ausgesondert und der planmäßigen Tötung zugeführt wurden.
Diesem einzigen, schrecklichen Jahr widmet sich der Osteuropahistoriker Karl Schlögel in seinem neuesten Buch, das gerade mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für das Jahr 2009 geehrt wurde. Schlögel ist dem deutschen und internationalen Publikum seit Jahrzehnten vor allem durch kulturhistorische Werke und Essays vertraut. Seine glänzend geschriebenen Arbeiten über das Wiederentstehen des Geistes der Städte im Osten Europas, über „Sankt Petersburg als Laboratorium der Moderne“, die Schicksale der russischen Emigration waren eindrucksvolle historische Ortsvermessungen der östlichen Hälfte des Kontinents.
Schlögel, der in seiner Jugend selbst dem Hoffnungshorizont des internationalen kommunistischen Experiments verbunden war, ließ die Frage nach den Voraussetzungen, Triebkräften und Folgen des kommunistisch-stalinistischen Terrors niemals los. Sie begleitete ihn auf seinen intellektuellen Wanderungen durch die Weiten Osteuropas; in die Welt der Archive hinein und die Interviews und Gespräche mit Überlebenden. Das Jahr 1989 und der darauf folgende Untergang der Sowjetunion, die teilweise Öffnung der Archive und der Kampf um eine angemessene Erinnerung trieben den Historiker schließlich in das Wagnis, sich dem Moskau des Jahres 1937 als „Traum und Terror“ direkt zu stellen. Ein weiterer Grund kommt hinzu: Über die Ereignisse selbst existieren zwar seit langem Berge an Erinnerungen, Tagebüchern, erschütternde Chroniken des Gulag-Imperiums, Analysen von Historikern, Statistiken des Todes, Berichte der Denunzianten, die Protokolle der Prozesse und Verhöre. Mittlerweile sind Dokumente der Tötungsmaschinerie und Unterlagen der Täter aus den Führungsetagen des NKWD und der KPdSU zugänglich – Täter, die wenig später zumeist selbst zu Opfern wurden.
Von Ausnahmen abgesehen blieb die osteuropäische Dimension der Verbrechen jedoch meist am Rand der historischen Aufmerksamkeit. Die aus gutem Grund geschärfte Sensibilität für den von Nazideutschland bewirkten Zivilisationsbruch des letzten Jahrhunderts, für die Einzigartigkeit des Holocaust, ließ den Blick auf das Paralleluniversum des Grauens zurücktreten. Zu Recht merkt Schlögel an, dass Dachau, Buchenwald und Auschwitz im internationalen historischen Bewusstsein präsent sind, Workuta, Kolyma und Magadan noch lange nicht. Primo Levi nimmt seinen Platz in der europäischen Literatur ein, nicht jedoch Wadim Scharlamow. Die Erinnerung an die Opfer des zweiten europäischen Zivilisationsbruchs droht zu verschwinden. Moskau 1937 gehört jedoch mit zum Verständnis darüber, was das 20. Jahrhundert für Europa bedeutete.
Schlögel fügt den bisherigen Annäherungen und Erklärungsansätzen zum Terror der Stalinjahre nicht einfach einen weiteren Versuch hinzu. Für ihn sind die Befunde der klassischen Totalitarismustheorien und die ihnen folgenden und sie infrage stellenden sozialwissenschaftlichen Ansätze, welche das Sowjetsystem als gigantisches, gesellschaftsgestaltendes Modernisierungsexperiment fassen, wichtige Voraussetzungen, haben aber je eigene „weiße Flecken“. Recherche und Rekonstruktion der Mikrokosmen und des Makrokosmos, in dem sich die Geschichte Moskaus 1937 bewegt, die Anerkennung der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, von Koexistenz und Kopräsenz des Disparaten“ machen Schlögels Zugang aus. Traum und Terror, Zukunftsfixierung und Stillstand, eine Stadt, berstend vor Vitalität und zugleich vor extremer Angst gelähmt, entsteht vor dem Leser. Eine Reise mit nahezu 40 Stationen und Schauplätzen führt in die Zentren der Macht und die Bretterverschläge der Vorstädte – die Kommunalka-Wohnungen, in denen mehrere Familien auf engstem Raum zusammengepfercht waren – und die Luxusquartiere der Prominenten. Stalins Generalplan machte ganz Moskau zu einer einzigen Baustelle, die trotz Passzwang und Verordnungen Menschen aus allen Teilen des Riesenreiches magnetisch anzog. Allen Planungsbemühungen entgegen ließ sich der Wachstum der Stadt nicht steuern, wurden die Gestalter des Generalplans zu Getriebenen, denen ihr eigenes Werk über den Kopf wuchs. Eine Anfang jenes Jahres angesetzte unionsweite Volkszählung wurde noch vor Veröffentlichung der Ergebnisse abgebrochen, weil sich zwischen Schätzungen und Ergebnissen Millionendifferenzen ergaben, die sich nicht erklären ließen. Ging es hier um Millionen namenloser Terroropfer? Die Verantwortlichen der Volkszählung wanderten anschließend selber in die Lager und Erschießungskeller.
Für den Ausgangspunkt seiner Reise kam Schlögel zugute, dass der berühmte Roman Michail Bulgakows „Meister und Margarita“ an zahlreichen Schauplätzen Moskaus spielt und in das Jahr 1937 hineinführt. „Margaritas Flug“ wird damit der Anfang der Reise. Wer jedoch annimmt, dass die benannten Phänomene der Modernebegeisterung, Streifzüge in die Geschichte der frühen sowjetischen Kinematografie, Exkursionen zum Moskauer Art déco, die Beschreibung des Puschkinjubiläums oder der Parade der Sportler, der Besuch Moskauer Vergnügungsparks den Kulturhistoriker von seinem eigentlichen Gegenstand abbringen, der irrt. Schlögel lässt keine der Stationen des Grauens aus, die das Jahr 1937 so unfassbar machen – die Terrorzentrale der Lubjanka, die Gefängnisse von Lefortowo und Butyrka, den Erschießungsplatz Butowo, an dem die Ermordeten auch gleich verscharrt wurden. Er schildert das Eindringen der Angst und des Terrors in die Quartiere der Emigranten – darunter das berühmte „Hotel Lux“, in dem auch die deutschen Kommunisten untergebracht waren – und in die Datschensiedlungen der Prominenten. Westliche Blicke in den Notizen des US-Botschafters Joseph E. Davies, Georgi Dimitroffs Tagebuch als Dokument einer Selbstzerstörung, Lion Feuchtwangers Reisebeschreibung und Eindrücke vom Besuch der Schauprozesse fügen weitere Facetten hinzu.
Am Ende einer Reise, die den Leser mit lähmender Beklemmung zurücklässt, aber auch Phasen der Faszination auslöst, verweigert sich Karl Schlögel als Reiseführer und Autor jeder bündigen Erklärung des Terrorphänomens. Was er auslöst, was er für die weitere Suche an die Hand gibt – das ist es, was sein Werk so beeindruckend macht.
Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937. Carl Hanser Verlag, München 2008. 816 Seiten, 29,90 Euro.
Wolfgang Templin
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