Rezension "Axolotl Roadkill": Ich ist ein Drogentrip
Ich ist ein Drogentrip: "Axolotl Roadkill“, das erstaunliche Romandebüt der 17-jährigen Helene Hegemann.
Ein rothaariger Knirps mit Seitenscheitel und Sommersprossen legt seinen Kopf auf die Lehne eines Ledersofas und spricht mit großem Ernst in die Kamera: „Ich weiß, es wird nie wieder etwas Geileres in meinem Leben geben als Heroin. Alles, was von nun an passiert, werde ich mit diesem morbiden großbürgerlichen Heroinflug vergleichen, der gerade am Start ist.“ Weitere Kinder hängen mit ihm in einer schicken Altbauwohnung herum. Die Jungs tragen weiße Hemden, die Mädchen Blusen, Perlenketten und seltsame Frisuren – sie alle sind auf einem mit großem Ernst angetretenen Drogentrip.
Die Szene dauert eineinhalb Minuten, findet sich neben ähnlichen Clips auf dem Online-Portal YouTube und wirbt für den Roman „Axolotl Roadkill“, dem die vorgetragenen Sätze entstammen. Geschrieben hat ihn die 17-jährige Helene Hegemann. Weil sie sich mit dem Filmemachen auskennt – ihr Drehbuch- und Regie-Debüt „Torpedo“ gewann vor einem Jahr in Saarbrücken den Max-Ophüls-Preis für mittellange Filme – hat sie die Clips gleich selbst gedreht, inklusive Verfremdungseffekt und ironischer Visualisierung der „Wohlstandsverwahrlosung“. Ein wichtiger Begriff im Roman.
Hegemanns literarisches Debüt sticht aus der braven Nachwuchsliteratur der letzten Jahre schon allein durch sein bemerkenswertes Rhythmusgefühl heraus. „Axolotl Roadkill“ ist eine Collage aus Bewusstseinsströmen, Dialogen, Mails, SMS und erzählerischen Ansätzen. In der Summe entsteht ein ungemein dichter Text von hoher Sogwirkung. Dessen Dreh- und Angelpunkt ist die 16-jährige Ich-Erzählerin Mifti, die seit dem Tod ihrer Mutter vor drei Jahren mit ihren älteren Halbgeschwistern in Berlin wohnt. Eine Hausangestellte und Laptops gehören zum Inventar, Geldsorgen kennen die Kinder eines Kreativ-Schickeria-Vaters nicht. Mifti geht nicht zur Schule, sondern auf Partys. Sie nimmt Drogen aller Art, meist mit ihrer älteren Freundin Ophelia, die in sie verliebt ist. Sex hat sie so viel wie wahllos.
Mifti selbst charakterisiert sich so: „Ich bin ein misshandelter Teenager. Meine Schwester als einfühlsame Interpretin kann ohne Weiteres eine zutiefst traumatisierte, hyperintelligente, vom rechten Weg abgekommene Person in mir erkennen, die den berühmten stummen Schrei nach Liebe/Hilfeschrei am Rande des Abgrundes aussendet. Ich hingegen erfreue mich an der von mir perfekt dargestellten Attitüde des arroganten, misshandelten Arschkindes, das mit seiner versnobten Kaputtheit kokettiert und die Kaputtheit seines Umfeldes gleich mit entlarvt.“
In diesem Sound schreibt Mifti auch über ihre Vergangenheit. Nach und nach zeigt sich, dass sie mit ihrer schizophrenen, drogenabhängigen Mutter in einer beängstigenden Symbiose gelebt hat. Den dadurch entstandenen Seelenschaden hält Mifti für irreparabel. Von „Psychologiescheiße“ will sie aber nichts wissen. Darüber reden hilft nicht – darüber schreiben schon. „Du besitzt mich, du beherrschst mich, ich habe nichts mit dir zu tun“, heißt es in einem Brief an die Mutter. „Die komplette Welt verabscheut mich. Es kann sein, dass ich dich unter zivilisierten Umständen ermordet habe. Männer wollen mich natürlich vergewaltigen, einige Stellen meines Körpers sind ständig entzündet, diese Welt ist das Paradies, Schmerz existiert nicht. Man muss nur lange genug daran glauben.“
Ein Dokument unbedingten Lebenswillens: Vom ersten Satz an wirft sich die mit der Angst vor dem Tod und dem Wahnsinnigwerden kämpfende Ich-Erzählerin in ihr Tagebuch-Projekt. Auch wenn sie sich allen konventionellen gesellschaftlichen Anforderungen verweigert und autoaggressive Tendenzen hat, will sie doch in dieser Welt sein. So ist ihr virtuoses, oft uferloses Schreiben ein großer Selbstermächtigungsversuch. Sie weigert sich, die Rolle eines Opfers anzunehmen. Das Medium Sprache reflektiert Mifti stets mit: „Ich schwöre, dass ich kein einziges, absolut kein einziges meiner mit diesem Tagebuch in Zusammenhang stehenden Worte glauben kann. Das heißt, ich glaube an die Worte, ich weiß, dass sie der gemeingültigen Auffassung von Wahrheit entsprechen, aber gleichzeitig bereitet es mir ganz erhebliches physisches Unbehagen, zu behaupten, das alles sei in irgendeiner Form berechtigt.“
Eine andere Überlebensstrategie von Mifti ist die Neuinszenierung alter Konflikte: In der Beziehung mit der 30 Jahre älteren Alice stellt sie die Situation mit ihrer Mutter nach. Vor allem das Schweigen und die Unerreichbarkeit der geliebten anderen quälen Mifti. Sie arbeitet sich daran ab – bis hin zu einem sadomasoschistischen Finale, in dem sich eine verquere Erlösung verbirgt.
Sich selbst mit den Mitteln der Kunst zu heilen – diese Hoffnung teilt die Hauptfigur mit ihrer Schöpferin. So sagt Helene Hegemann, die sich selbst „gestört“ nennt, über „Torpedo“: „Der Vorgang, diesen Film zu machen, hat mir mehr gebracht als 100 Therapiestunden.“ Hegemann wuchs in Bochum bei ihrer Mutter auf, die starb, als sie 13 war. Sie zog zu ihrem Vater Carl, dem Schlingensief-Mitarbeiter und früheren Chefdramaturgen der Berliner Volksbühne. Nur sollte man Mifti so wenig wie Mia – die Protagonistin aus „Torpedo“ – mit Helene gleichsetzen. Sicher spielt Persönliches als Ausgangspunkt ihres Schreibens eine Rolle. Doch „Axolotl Roadkill“ geht über eine Autobiografie hinaus. Hegemanns hochartifizielle Sprache ist gespickt mit Verweisen auf Christoph Schlingensief oder die radikale US-Autorin Kathy Acker.
Hinzu kommen Popmusik-Referenzen mit hohem Retro-Anteil. Einige Kapitel sind nach Zitaten von Pink Floyd, Leonard Cohen oder Steve Miller benannt. Patti Smith, Kim Gordon, Robert Wyatt spuken durch die Dialoge, und ein Hit der britischen Beat-Combo The Zombies ist an einer Schlüsselstelle als emotional aufgeladene Geste inszeniert.
Dabei ist natürlich cooles Sprechen gefragt. Ein griffiger Slogan ist einer langen Argumentation allemal vorzuziehen. Kurzweiligkeit und Unterhaltsamkeit prägen auch den Rest von „Axolotl Roadkill“, passend zum vorangestellten Motto „We love to entertain you (Pro 7)“. Hegemann gelingt es, trotz aller Sprunghaftigkeit ihres Texts tief in das verwinkelte Bewusstsein ihrer Protagonistin hineinzuführen. An „Axolotl Roadkill“ werden sich dieses Jahr wohl alle deutschsprachigen Romandebüts messen lassen müssen.
Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Roman. Ullstein, Berlin 2010. 204 S., 14,95 €.
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