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Neuer Potsdam-Roman von Julia Schoch: Ich-Inseln

Heute stellt die Potsdamer Autorin Julia Schoch ihren neuen Roman „Schöne Seelen und Komplizen“ in der Villa Quandt vor. Darin bleibt die Autorin ihren Themen treu – und doch ist der Roman radikal anders als das, was sie bisher geschrieben hat

In einem Artikel in der „Zeit“ beschrieb Julia Schoch vor ein paar Wochen, wie man einst – womöglich – auf die Ära Merkel zurückblicken wird. Sie tat es in Form eines Briefes an die Nachgeborenen, die Kinder. „Ein jeder suchte seine Insel der Glückseligkeit“, schrieb sie da. „Aus dem Gewebe ‚Gesellschaft’ waren einzelne Fetzen geworden.“ Diese Fetzen seziert Julia Schoch in ihrem neuen Roman „Schöne Seelen und Komplizen“, der heute erscheint. Sie tut es aus einer Perspektive, die sich um den Abstand von Jahrzehnten bemüht – und gleichzeitig aus größtmöglicher Nähe. Ein Spagat: Der Roman sucht die Vogelperspektive und eine radikale Subjektivität zugleich.

Das radikal Subjektive, die erzählerische Ich-Perspektive, beherrscht alle literarischen Texte von Julia Schoch. „Selbstporträt mit Bonaparte“, „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“, immer sogen die Texte einen über die Ich-Erzähler in sich hinein. Das ist auch in „Schöne Seelen und Komplizen“ so, und doch ist der neue Roman radikal anders. Umfangreicher. Unterhaltsamer, leichter auch. Und er macht ein Panorama von Stimmen auf, „lauter Iche“, wie Julia Schoch im Gespräch sagt. Wir treffen uns in der 1. Etage des Buchladens Wist. Um die Ecke hat sie ihr Büro.

Im Roman kommen zu Wort: 16 Schüler eines Elitegymnasiums im Potsdam der Vorwendezeit. Käthe-Kollwitz-Schule heißt sie im Roman, aber dass die Helmholtz-Schule gemeint ist, ist kein Geheimnis. Julia Schoch war selbst dort Schülerin, als die Mauer fiel. Dennoch, sagt sie, will der Roman keineswegs Porträt dieses einen Ortes sein. Genauso wenig wie das Potsdam, das im Buch tatsächlich so heißt, deckungsgleich mit der realen Stadt ist. „Ich bin keine Historikerin“, sagt Julia Schoch. Und: „Das Ausgedachte ist oft stimmiger als das Dokumentarische.“ Sie interessiert nicht das Detail als solches, sondern wie das Erinnern daran funktioniert. Die Vogelperspektive.

Unhistorikerhaft ungenau ist auch die Zeitspanne, in der Teil eins des Romans angesiedelt ist: 1989 bis 1992. „Durch das Buch wollte ich zeigen: Es ist nicht das einzelne Großereignis, das uns prägt“, sagt Julia Schoch. „Die Dauer der Zeit prägt uns.“ Ein Schlüsselerlebnis für dieses Buch: Als sie für den Roman recherchierte und eine Freundin ihr ein Tagebuch von damals zeigte, fiel beiden auf: Es geht um Liebe, Schule, Eltern, aber der 9. November? Der kommt im Tagebuch nicht vor.

Im ersten Teil des Romans stehen also Momente kurz vor dem Fall der Mauer und kurz danach nebeneinander, fließen ineinander. Hier lernen wir sie alle kennen, die spöttische Lydia, die beflissene Stefanie, den aufrührerischen Ruppert, die gehässige Funktionärstochter Kati, den talentierten, leicht abgehobenen Alexander. Oder auch den genialischen Bodo, der nach einem Besuch im Checkpoint-Charlie-Museum in seinem Erfahrungsbericht schreibt: „Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte wandernder Grenzzäune, jedes Mal mit viel Natur dazwischen.“ Note fünf.

Bodo ist nicht nur ausnehmend klug und auf geradezu autistische Weise in sich gekehrt, er ist auch am deutlichsten, weil widerstandlosesten einsam. Und er scheint auf unmittelbarste Weise Sprachrohr für den Blick der Autorin auf ihre Zeit, damals oder heute. Es der Blick aus der Ferne. Bodo spielt gedanklich das durch, was den Roman – und alles Schreiben von Julia Schoch – beschäftigt: Wie würde man mit dem Abstand von Jahrzehnten auf das Jetzt zurückblicken? Wenn das ginge, sagt Bodo, würde die Lehrerin dereinst sehen, „dass sich nichts geändert hat (Was sehr gut ist.)“

Teil zwei des Romans macht die Probe aufs Exempel. Er spielt 30 Jahre später – „Heute“. Es gehört zum Humor dieses Romans, wie Bodo in Bezug auf besagte Lehrerin, Frau Schober, recht behält. Von einer ehemaligen Schülerin wird sie in einem Fitnessstudio erspäht, braun gebrannt, energisch, lächerlich. Die Schülerin kommentiert: „Angesichts ihrer übertrieben eifrigen Hopserei lässt sich erahnen, dass sie noch immer die engagierte Nervensäge ist, die sie früher war.“

Die spöttische Lydia arbeitet jetzt für einen Verlag und versucht ihre verfahrene Ehe mit dem ehemaligen Schul-Schönling durch einen Kurztrip nach Paris zu retten. Die Vergangenheit pappt an ihr „wie Gries“ und über ihre Ehe sagt sie: „Hat man erst eine gemeinsame Geschichte, wird man sich nie mehr los.“ Ruppert, der früher gegen Lehrer aufbegehrte, sitzt seine Zeit in Spielkasinos ab, sehnt sich nach „richtigen Feinden“, grummelnd gegenüber einer Zeit, die ihm solche Feinde vorenthält. Alexander ist Historiker geworden, reist mal eben nach Washington für einen Vortrag (Thema: „The German Unification – A Myth?“), und muss grollend feststellen, dass er festsitzt in seinem Leben. Obwohl er, der Überflieger, nie ankommen, sondern immer nur Gast sein wollte. Aber: „Der Zeitpunkt, irgendwas zu wollen, ist ohnehin längst überschritten.“

Sie haben Kinder, Arbeit, Geld, fliegen durch die Welt. Und doch wirken die Erwachsenen in Teil zwei wie Hamster im Rad, in geradezu zwanghafter Dauerbewegung, gehetzte Tiere auf der Jagd nach dem richtigen Futterkorn. Was das für ein Futterkorn wäre, sie wissen es nicht. Wüssten sie es, sie müssten nach der eingangs erwähnten Insel der Glückseligkeit nicht länger suchen. Aber Stillstand darf es nicht geben. Am deutlichsten – und nahe an der Persiflage – wird das bei Cornelia, beruflich erfolgreich (irgendwas mit Pharma), die sich im Fitnessstudio erbittert gegen das eigene Alter abstrampelt, ein tragikomischer Kampf, weil schon verloren.

„Ein großer Energieaufwand bei gleichzeitiger Kraftlosigkeit, so könnte man das sagen“, sagt auch Julia Schoch über ihre Figuren. Sie will aber keine denunziert sehen. „Zu jedem gab es eine Brücke, niemand war mir zu fremd oder abwegig. Das war die große Freude beim Schreiben, dass man jedem Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte.“ Überhaupt, Gerechtigkeit: Von der Suche danach sind alle großen Werke getrieben, sagt Julia Schoch. „Wenn man vorher schon die zentrale Frage des Buches beantworten kann, braucht man nicht anfangen zu schreiben.“

Die große Frage von „Schöne Seelen und Komplizen“ ist die, was die Zeit mit uns macht – und wir mit ihr. „Ist es besser, die Vergangenheit loszulassen oder müssen wir uns dringend um sie kümmern?“, so formuliert es Julia Schoch. „Ich weiß es nicht.“ Ihre Figuren, sagt sie, suchen alle nach einer Pflicht. Darauf verweist auch der Titel des Romans. „Laut klassischer Definition ist die schöne Seele die Übereinstimmung von Pflicht und Neigung. Und das ist das, woran sie sich alle abarbeiten. Ich sicher auch.“

Im zweiten Teil rücken die Figuren näher an einander heran, es kommt zu einem – kläglichen – Klassentreffen, kurzen Begegnungen. Flipperkugeln, die punktuell aufeinanderstoßen und dann wieder auseinanderfliegen. Als Steffi und Lydia sich wiedertreffen, in einem Café, das Potsdamer leicht als das „Heider“ identifizieren werden, stehen beide kurze Zeit später vor dem durchsanierten Schulgebäude – und werden trotz der gemeinsamen Vergangenheit nicht zu Komplizinnen. Die Initialen, mit denen sie sich bei dem Schulabschluss in dem Mauerwerk eingraviert hatten, wurden wegsaniert. „Wenigstens bleiben uns die Erinnerungen“, sagt Steffi. Lydia sagt: „Es hat uns also nie gegeben“.

Gehen mit verschwindenden Gebäuden auch Biografien verloren? „Schöne Seelen und Komplizen“ verhandelt grundsätzliche Fragen. Fragen, die gerade aus Potsdamer Perspektive, vor dem Hintergrund einer Stadt, die so leidenschaftlich über den Umgang mit ihren Vergangenheiten streitet, am Eingemachten rühren. Der Roman schlägt sich dabei auf keine Seite, ruft, wenn überhaupt, zu jener Gelassenheit auf, die der Abstand von Jahrzehnten zu tagesaktuellen Aufregern mit sich bringt. Und das Schönste: Man merkt dem Roman sein schweres Gedankengepäck kaum an. Er liest sich für Schoch-Leser sogar ungewöhnlich leicht, unterhaltsam – und ist, bis auf die Figur des Bodo, der gegen Ende Funksprüche aus dem Jenseits beamt, realistisch erzählt.

„Früher habe ich sehr gemeißelt“, sagt Julia Schoch. „Dadurch habe ich meine Texte auch sehr begrenzt. Hier ging es um das Gegenteil: Wie kann ich den Text beweglich machen?“ Das Ergebnis ist ein großer Roman, dessen einziges Manko sein mag, dass seine Ich-Inseln so beweglich sind, dass man die Verbindungen zwischen ihnen schnell überliest. So treiben sie jede für sich im erbarmungslosen Fluss der Zeit. Kein Gewebe eben, sondern vereinzelte Fetzen.

Julia Schoch stellt ihren Roman heute um 20 Uhr in der Villa Quandt vor

Julia Schoch:Schöne Seelen und Komplizen.

Piper Verlag 2018,

Hardcover

mit Schutzumschlag,

320 Seiten, 20 Euro.

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