Theater in Potsdam: „Ich hätte mehr zeigen können“
Andrea Thelemann feiert heute ihre letzte HOT-Premiere. Ein Blick zurück auf acht Potsdamer Jahre
Potsdam - Manchmal sagt eine Bewegung mehr als viele Worte. So ein Kopfwiegen zum Beispiel. Frau Thelemann, wie werden Sie Potsdam in Erinnerung behalten, nach acht Jahren im Ensemble? Wer da mit dem Kopf wiegt, mag vieles meinen, danach vieles sagen, sagt aber im Grunde doch: Das Gelbe vom Ei war es nicht.
Wobei sich Andrea Thelemann beeilt zu differenzieren: „Als Ensemble haben wir Maßstäbe gesetzt, die man so leicht nicht toppen kann.“ Und tolle Regisseure habe sie hier kennengelernt, Alexander Nerlich zum Beispiel, und Elias Perrig. Mit Letzterem bestreitet sie heute ihre letzte Potsdamer Premiere: „Mittelschichtblues (Good People)“ vom Pulitzer-Preisträger David Lindsay-Abaire. Eine deutsche Erstaufführung.
Ohne Blatt vor dem Mund
„Dieses Stück empfinde ich als Geschenk“, sagt die Schauspielerin Andrea Thelemann. Ein Abschiedsgeschenk des Mannes, der dieses Theater seit 2009 leitet – und der auch der Mann von Andrea Thelemann ist? Nein, sagt sie: als das Stück ins Programm aufgenommen wurde, ahnte niemand am Theater, dass dies die letzte Spielzeit von Tobias Wellemeyer sein würde. Es ist eine dialogstarke Komödie, die Geschichte einer Frau, die um ihren Platz in der Gesellschaft kämpft. Konkret um einen Arbeitsplatz – als Putzfrau, Verkäuferin, was auch immer. Sie kämpft darum mit Stolz und Biss, mit offenem Visier und ohne Blatt vorm Mund. In der Art von: „Sorry, wenn ich so deutlich bin, aber das ist gequirlte Scheiße.“
„Es ist eine tolle Figur“, sagt Andrea Thelemann. „Sie ist optimistisch und lässt sich nicht unterkriegen.“ Die Figur ist ihr nahe, das wird im Verlauf des Gesprächs deutlich. Nicht nur, weil Margaret offen heraus Dinge beim Namen nennt, weil sie sich empören kann über Unaufrichtigkeit und soziale Ungerechtigkeit. Da ist auch die unsichtbare Konstante in Margarets Leben, ihre behinderte Tochter, inzwischen erwachsen. „Ein Problemkind“, nennt Andrea Thelemann es apostrophierend. Sie selbst hat eines, ein „Problemkind“. Ihre Tochter wurde mit einer Behinderung geboren, brauchte immer Unterstützung. Heute ist sie erwachsen. „Es ist ein Einschnitt im Leben, das ist klar“, sagt sie. „Aber man findet irgendwann einen Punkt, an dem man damit zurecht kommt.“ Und sie stellt auch klar: „Das Problem ist nicht das behinderte Kind, sondern das Umfeld des Kindes.“
Mit großem Gerichtigkeitssinn
„Menschen wie Margaret und ihre Tochter werden an den Rand der Gesellschaft geschoben“, sagt Andrea Thelemann, und ist schnell bei der Wut über die Diskussion über die Potsdamer Tafel, bei Rassismus, Vorurteilen. Dinge, die das Theater nicht überwinden, aber doch thematisieren kann. „Theater kann nicht von heute auf morgen die Welt umstürzen, das wissen wir alle. Aber es kann dabei helfen, dass wir ins Gespräch kommen, und auch mal streiten. Und das haben wir hier in Potsdam in den letzten Jahren versucht.“ Als 2015 die Flüchtlingskrise über Deutschland rollt, bringt sich die Schauspielerin ohne zu zögern mit ein. Kommt in Kontakt mit einem Syrer, mit dem sie noch heute befreundet ist. Lernt über ihn, wie sich Muslime in einem Land fühlen, in dem der Islam von manchen verteufelt wird.
Der Blick auf jene am Rand wurde durch die eigene Tochter stärker. Da war er schon immer, sagt Andrea Thelemann. Sie wächst in einem kirchlichen Kontext auf, hat schon als Kind einen großen Gerechtigkeitssinn, bekommt in der Schule attestiert: „Die Andrea mischt sich schnell ein.“ Als ein Mitschüler wegen vergessener Hausaufgaben in einer Ecke stehen musste, will ihr das nicht einleuchten. Und das sagt sie auch. Das gab Ärger, ebenso später an der Musikhochschule in Weimar, als sie sich weigert das Lied „Die Partei hat immer recht“ zu singen.
Zu groß und über 40
Andrea Thelemann studiert Gesang, zum Schauspiel kommt sie 1994 als Quereinsteigerin ans Staatsschauspiel Dresden. Damals ist sie Mitte dreißig. Bis es dazu kommt, tourt sie einige Jahre als Freiberuflerin mit der freien Gruppe „Statt-Theater Fassungslos“ durch die für sie neue Hälfte Deutschlands. Gastiert in NRW und München, aber auch in Zürich, Salzburg und Wien. Nicht selten trifft sie unterwegs auf Schauspielerinnen, die fragen: „Wie machst du das nur, Kind und Schule und Spielen?“ Sie macht es einfach. Eine gute Zeit für Andrea Thelemann, vielleicht die beste.
Ohne Kind, sagt sie, hätte sie die Einladung ins feste Engagement in Dresden vielleicht gar nicht angenommen. Aber das Kind war da, und es war immer zentral in ihrem Leben. Auch Tobias Wellemeyer war damals in Dresden Regisseur. Also nahm sie das Angebot an, und blieb bis 2001. Auch eine gute Zeit. Dann kam ein neuer Intendant, sie musste gehen. Was folgte, war keine so gute Zeit. Vorsprechen, Gastrollen, der Versuch, sich verkaufen zu lernen. Die Kommentare der Entscheider: „Sie sind gut, aber wir müssen daran denken, wie sie ins Ensemble passen. Wenn Sie Ihren Partner von der Bühne pusten, wird’s albern.“ Andrea Thelemann ist eine große Frau, 1,80 Meter. Sie fällt auf, und sie fällt durch Rollenmuster. Dazu kam, was am Theater schändlicherweise nach wie vor Kriterium ist: Andrea Thelemann war über 40. Kein Alter, aber für viele klassische Rollen zu alt.
Sie hätte gerne mehr gesungen
Tobias Wellemeyer macht inzwischen Karriere, wird Intendant der Freien Kammerspiele Magdeburg, wird Generalintendant des Theaters Magdeburg, schließlich Intendant in Potsdam. 2010 holt er Andrea Thelemann in sein Ensemble. „Es war die Entscheidung von Herrn Wellemeyer“, sagt sie trocken. Und sie sagt auch, dass sie sich das Ankommen in Potsdam leichter vorgestellt habe. „Die Schwierigkeiten habe ich unterschätzt.“
„Herr Wellemeyer“, so nennt Andrea Thelemann ihn tatsächlich, wenn der Intendant gemeint ist, habe sie nie bevorzugt. Eher im Gegenteil. Fünf Jahre wartete sie in Potsdam auf größere Rollen. In „My Fair Lady“ singt sie 2011 die Mrs Eynsford-Hill, eine Nebenrolle. Auch in „High Society“ (ebenfalls 2011) ist sie dabei, obwohl sie, wie sie sagt, wenig Verständnis für diese Arbeit hat. 2013 erinnert sie als melancholisch tragikomische Lucía in „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ immerhin daran, dass diese schrille Komödie ursprünglich von Pedro Almodóvar stammt. „Ja, das war ganz nett“, sagt sie heute. 2014 dann endlich „Zorn“, ein zeitgenössisches Kammerstück von Joanna Murray-Smith über Rassismus, Extremismus, Familienwerte und Selbstverleugnung. Die Rolle der Alice Harper, die als Jugendliche aus Idealismus zur Verbrecherin wurde, ist die größte, die Andrea Thelemann in Potsdam gespielt hat, für sie die wichtigste. „Ich hätte mehr zeigen können, denke ich“, sagt sie über die Potsdamer Jahre. Da ist es wieder, das Kopfwiegen. Gerne hätte sie mehr gesungen, Weill-Lieder zum Beispiel. Oder Jelinek-Texte gesprochen.
Kein Theater mehr, sondern Therapie
Dazu kam es nicht, und wenn Andrea Thelemann von der Zukunft spricht, ahnt man, dass es dazu auch nicht mehr kommen wird. Wenn Potsdam, diese gemischte Erfahrung, hinter ihr liegt, wird sie sich keinen Vorsprechen mehr ausliefern. Sie will etwas Anderes machen, eine therapeutische Ausbildung. „Mit den Mitteln des Spiels anderen helfen, das möchte ich.“ Es sei denn, jemand hat doch ein Engagement für sie. „Wunder gibt’s manchmal, aber nicht immer.“
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