Interview mit Herta Müller: "Ich habe noch nie auf einen Preis gewartet"
Zwei Tage vor der Nachricht über den Nobelpreis für Herta Müller hat der Tagesspiegel in Berlin ein Interview mit der Schriftstellerin geführt - unter anderem über Literaturpreise.
Als Herta Müller am vergangenen Dienstag im Café des Literaturhauses in Berlin-Charlottenburg sitzt, ahnt sie nicht, was zwei Tage später auf sie zukommt. Sie soll Auskunft geben über „Atemschaukel“, über ihr Leben und Schreiben, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass ihr neuer Roman auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht, der am kommenden Montag verliehen wird.
„Atemschaukel“ stützt sich auf die Erinnerungen des Büchnerpreisträgers Oskar Pastior über seine Zeit in einem russischen Arbeitslager von 1945 bis 1950. Sie schreiben in Ihrem Nachwort, sie hätten sich nach seinem Tod 2006 zu dem Buch förmlich durchringen müssen. Was hat dann doch den Ausschlag gegeben?
Oskar Pastior hat soviel Zeit in die Erinnerrungsarbeit mit mir gesteckt, er war mit einer solchen Leidenschaft dabei, dass ich ihm etwas zurückgeben musste. Es war so schwer, weil ich an vielen Stellen unserer Notizen noch wusste, was er in dem Moment mit seinen Händen machte, wie sein Gesichtsasudruck war, dass ich das kaum aushalten konnte. Andererseits wusste ich im Unterbewusstsein immer, dass ich damit zu Ende kommen musste.
Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit?
Ich wollte schon länger ein Buch über die russischen Arbeitslager machen, in denen Rumäniendeutsche allein wegen der Tatsache, dass sie Deutsche waren, interniert wurden. Auch meine Mutter war fünf Jahre in so einem Lager, und ich hatte mit Leuten aus dem Dorf gesprochen, aus dem ich kam, und sie nach ihrern Erinnerungen befragt. Nur waren das einfache Leute, ihre Selbstwahrnehmung war nicht so geschärft. Sie sagten, es wäre alles schlimm gewesen, ohne dieses Schlimme in Details aufzulösen, was für einen Text wichtig ist. Sie haben nie darüber nachgedacht, was es genau bedeutet, wenn man Hunger hat, was chronischer Hunger ist usw.
Und mit Oskar Pastior war das anders.
Seine Zeit im Arbeitslager war sein Lebensthema. Nur eben nicht eins zu eins. Wir begannen uns darüber auf einer Fahrt in die Schweiz zu unterhalten, weil ich eine lästerliche Bemerkung über die Tanne als solche machte, wie uninteressant sie sei, gerade im Gegensatz zu Laubbäumen. Und er erzählte mir dann, dass er sich im Lager eine Tanne aus Draht und Wolle gebaut hatte und wie wichtig das für ihn war, ein letzter Rest von Zivilisation. So begann es, es war vor allem auch sein Wunsch. Wir dachten, wir hätten alle Zeit der Welt - auch um uns später Gedanken darüber zu machen, wie das einmal als Buch aussehen sollte.
Wieviel Fiktion steckt in dem Buch?
Es hat sich nicht alles genau so zugetragen, wie geschildert. Ich habe viel kombiniert – was sich von anderen Leuten gehört habe, auch das Wenige von meiner Mutter. In Pastiors Lager sind nicht so viele Leute gestorben, denn dort gab es Kohle, dort konnte geheizt werden. In dem meiner Mutter gab es das nicht, dort sind viele erfroren, über 400 Menschen. In Pastiors Lager sind dreißig gestorben. Trotzdem wollte ich die Situation so darstellen, wie sie wirklich war, wie sie letztendlich für jedes Lager galt.
Sie haben einmal gesagt, sie wollten eine „schöne Sprache“ für das Buch finden. Ist das dem Thema denn angemessen?
Schön ist sie ja gar nicht. Schön ist das Wort, das wir gebrauchen, wenn uns etwas mitreißt. Ich meinte damit: eine treffende Sprache finden. Die Sprache musste so sein, um beschreiben zu können, was Pastior widerfahren ist. Die Sprache muss verdichtet sein, sonst brauche ich keine Literatur zu schreiben.
„Der Nullpunkt als das Unsagbare“ heißt es in Ihrem Buch. Von der Differenz zwischen der Sprache und dem Unsagbaren ist in Ihren Büchern und Aufsätzen oft die Rede. Ist es nicht paradox, dass sie trotzdem immer wieder versuchen, eine Sprache für das Unsagbare zu finden?
Das ist die Herausforderung. Wenn es für alles eine Sprache gäbe, bräuchte ich ja nicht zu schreiben. Die innere Notwendigkeit zu schreiben kommt bei mir genau daher, eine Sprache für das Unsagbare zu finden. Der innere Motor des Schreibens ist dieses Suchen, dieses generelle Misstrauen der Sprache gegenüber.
Und Worte wie „Eintropfenzuvielglück“ oder „Nichtrührer“ oder „Tageslichtvergiftung“ sind die Resultate dieser Suche?
Ich kenne diese Worte vorher nicht. Der Text gibt diese Worte vor. Das Thema entwickelt seinen inneren Sog und sucht sich eine Sprache, die es vorher nicht gab. Man ist dann so weit in einen Text eingestiegen, dass er seine eigenen Gesetze entwickelt.
Und wie kommt man aus so einem intensiven Text wie „Atemschaukel“ wieder heraus?
Ach, wenn er zuende ist. (lacht) Heraus komme ich schnell. Ich bin immer froh, wenn ein Text abgeschlossen ist.
Gerade Ihrer Sprache wegen gab es auch einige kritische Einschätzungen des Romans. Von „Entbehrungskitsch“ oder „Kunstschneeprosa“ war die Rede.
Da kann man nichts machen. Das ist wohl Glaubenssache. Das ist Ideologie, und Ideologen kann man nicht überzeugen. Man bekommt dabei den Eindruck, bestimmte Stoffe müssten so vor Gefühlen geschützt werden. Doch ohne Gefühle kann man nicht trauern. Und ohne Trauer hat alles keinen Sinn. Warum soll man in Extremsituationen keine Sprache und keine Metapher haben? In Deutschland scheint man eine genaue Vorstellung von Lagerbüchern zu haben - doch wenn ich den Lagerinsassen nur als Repräsentanten gelten lasse, nehme ich ihm seine Individualität. Das finde ich sehr grenzwertig.
Ein anderer Vorwurf, der Ihnen oft gemacht wird, ist, dass sie von Rumänien, Ihrer Zeit dort bis zu Ihrer Ausreise 1987 und Ihrer Verfolgung durch die Securitate nicht loskommen. Dass Sie nie über das Deutschland der Gegenwart schreiben.
Das ist tatsächlich absurd. Wenn ein Deutscher über die Nachkriegszeit schreibt oder über 68, ist das nie ein Problem. Bei mir aber stört und irritiert meine Herkunft, und weil ich über zwanzig Jahre in Deutschland lebe, verlangt man, dass ich über die deutsche Gegenwart oder das vereinigte Deutschland schreibe. Alexander Tisma, Jorge Semprun oder Georges-Arthur Goldschmidt würde man nie vorwerfen, sie hätten nur ein Thema in ihren Büchern.
Andererseits wurde „Atemschaukel“ auch wieder als „Weltliteratur“ bezeichnet.
Ich kann Ihnen versichern, dass diese ganze Rezeption nichts mit mir und meinem Schreiben zu tun hat. Ich habe genug erlebt, ich kann das einordnen. Weltliteratur ist ja schierer Unsinn. Was heißt das? Das Buch ist auf der Welt (lacht)
Sie sind jetzt mit diesem Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert worden. Haben Sie diesbezüglich Erwartungen?
Nein. Es ist eine Auszeichnung, das schon. Aber es hat nichts mit mir zu tun. Ich mache mich nicht abhängig von Erwartungen. Für mich gibt es nichts Wichtigeres als das Schreiben, das macht mir die Tage erträglich. Auszeichnungen sind etwas Außerliterarisches. Ich habe noch nie auf einen Preis gewartet.
Das Gespräch führte Gerrit Bartels.