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© dpa

100. Geburtstag von Astrid Lindgren: Ich für dich und du für mich

Utopien eines friedlichen Miteinanders: Astrid Lindgrens Werk beschwört das Idyll – nicht ohne dessen Gefährdung zu kennen.

Alles Astrid oder was? In den Buchhandlungen stapeln sich die Neuausgaben von Lindgrens „Pippi Langstrumpf“-Romanen, dazu Bücher mit Geschichten aus dem Leben der großen Schwedin. Kinos zeigen Lindgren-Verfilmungen, Kindertheater inszenieren ihre Stücke, und das ZDF hat sogar eine ganze Lindgren-Nacht angesetzt. Ein Marketingspektakel oder die angemessene Verbeugung vor der „berühmtesten Kinderbuchautorin der Welt“?

Wenn ein 100. Geburtstag so zelebriert wird, könnte man glatt auf den Gedanken kommen, dass damit auch dem Verblassen eines Werks Einhalt geboten werden soll. Zumindest scheinen Kinderbuchautoren ihres Schlages rar geworden zu sein. Der dieses Jahr von ihrem deutschen Verlag Oetinger ausgelobte Lindgren-Preis wurde jedenfalls nicht vergeben. Unter den 600 Einsendungen sei kein Manuskript gewesen, hießt es, „wie wir es uns im Geiste Astrid Lindgrens vorgestellt hätten.“

Aber was macht diesen Geist aus? Exemplarisch spiegelt er sich in den Büchern von den „Kindern aus Bullerbü“. Abenteuerliche Erlebnisse, sozialer Zusammenhalt und ein Zuhause, das mit duftenden Zimtwecken wartet, sind hier zum perfekten Kindertraum verdichtet. „Sag mir, wo liegt Bullerbü“, wurde die Autorin in Tausenden von Briefen gefragt. Freilich gibt es auch in diesem Idyll Verzweiflung und Traurigkeit. Traurig zu sein, gehört zum Leben von Lisa und Olle genauso wie von Tjorven und Pelle auf Saltkrokan oder zu dem von Michel. Zur Trauer wiederum gehört der Trost. „Du und ich, Alfred“, sagt Michel zu seinem besten Freund, dem Knecht Alfred. „Ja, du und ich, Michel, bestens, bestens“, antwortet Alfred.

Das ist der ewige Stoff, aus dem ihre Bücher sind. Ein Stoff, der Fünfjährige immer wieder dazu bringen wird, wie die tollkühne Pippi mit den roten Zöpfen davon zu träumen, Pferde stemmen zu können. Ein Stoff, der auch gegenüber Manga-Comics und Harry Potter Bestand hat und es auch Erwachsenen gestattet, sich noch einmal mit „Pippi an Bord“ zu amüsieren oder einen Kloß im Hals zu bekommen, wenn Jonathan Löwenherz seinen Bruder Krümel rettet und dabei stirbt. Lindgrens verschroben-liebenswerten Figuren haben erstaunlich wenig von ihrer Magie eingebüßt. Das liegt auch daran, dass es Henning Mankell zufolge Geschichten sind, „die Kinder wirklich hören wollen, und nicht die, von denen die Erwachsenen glauben, dass Kinder sie haben wollen.“

Das Kindheitsparadies, das Lindgren beschwört, hat sie selbst erlebt. Auf dem Bauernhof nahe der Stadt Vimmerby in der Provinz Småland strolchte sie mit den Geschwistern durch die Hage, balancierte über Dächer, war Sachensucherin und spielte Den-Boden-nicht-berühren wie Pippi, Tommy und Annika.

Aber auch die die Härten des großstädtischen Lebens kannte sie aus eigener Anschuung. Erst im Rückblick liest sich die Vita der Astrid Ericsson als einzigartige Erfolgsgeschichte. Als Bauernmädchen wird mit 18 Jahren schwanger, flieht aus der Provinz, schuftet und hungert in Stockholm. So gibt es bei ihr eine ganze Reihe elternloser, ängstlicher und kranker Helden, die sich allerdings aus ihrem tristem Alltag gerne hinausträumen. Der Waisenjunge Bosse in „Mio, mein Mio“ findet so seinen Vater, und Göran mit dem lahmen Bein fliegt mit Herrn Lilienstengel ins Land der Dämmerung. Der selbstherrliche Fleischbällchen-Fan Karlsson bleibt über Stockholms Dächern, bei seinem kreuzbraven, einsamen Freund Lillebror.

Astrid Lindgren hat ihre Lektion in Selbstständigkeit jedenfalls früh gelernt. Auch Pippi Langstrumpf, Lindgrens erste und bekannteste Heldin, kommt alleine gut zurecht, was die Erwachsenen nur schwer begreifen. Die Urfassung des Kinderbuchklassikers, 1944 niedergeschrieben, ist nun auf Deutsch erschienen. Die Ur-Pippi ist rüpelhafter als ihre Nachfolgerin, aber sie hat bereits alle einschlägigen Eigenschaften: Großzügigkeit und Zivilcourage liegen ihr mehr als korrektes Benehmen und „Plutimikation“. Außerdem lügt sie, „bis ihr die Zunge schwarz wird“. Es passiert ihr einfach, aus Lust am Erfinden – aus Lust am Leben.

Wie Pippi Langstrumpf entstand, ist oft berichtet worden: Astrids kranke Tochter Karin erfand sie, um sich die langweilige Bettruhe zu verkürzen. Astrid Lindgren notierte die Geschichten und schickte sie an einen Verlag. Der lehnte ab. Im Jahr darauf, 1944, gewann die überarbeitete „Pippi“-Version einen Wettbewerb des Rabén & Sjörgen Verlags. Lindgrens literarische Welt ist voller Eigenbrödler. Doch jeder hat eine Berechtigung auf dieses Dasein, solange er damit keinem anderen schadet. Dass es in der Welt grausam und ungerecht zugehen kann, hat die Autorin nicht ausgeblendet. Niedliche „Eichhörnchen-Geschichten“ verurteilte Astrid Lindgren, weil den Lesern dadurch das Schönste vorenthalten würde, nämlich zu schaudern, zu lachen und zu weinen.

Seit den 1940er Jahren beeinflusste Astrid Lindgren die Kinderliteratur weltweit – nicht nur durch ihre mehr als 70 Bücher, die in gut 90 Sprachen übersetzt wurden. Im skandinavischen Raum machte sie sich auch als Lektorin des Stockholmer Verlags Rabén & Sjörgen verdient. Ihm empfahl sie unter anderem Erich Kästner. Seinem Roman „Emil und die Detektive“ zuliebe aber wurde in Deutschland, wo mit einer Gesamtauflage von rund 30 Millionen Exemplaren der wichtigste außerschwedische Markt für ihre Werke ist, „Emil i Lönneberga“ zu „Michel“.

Eines von Lindgrens Refugien lag auf der Schäreninsel Furusund. In ihrer „Wohnung zuäußerst im Meer“ konnte sie ungestört schreiben, morgens im Bett oder draußen auf dem Balkon. In der Stockholmer Dalagatan 46, wo sie von 1941 bis zu ihrem Tod am 28. Januar 2002 wohnte, lag der Stenoblock ebenfalls neben dem Bett. Nicht nur diese intimen Morgenstunden teilte sie mit ihren Figuren. Wie viele von ihnen war blieb sie, wie sie stolz betonte, „eine Bauerntochter von Anfang bis Ende“.

Unter den Dutzenden Auszeichnungen, die sie erhalten hat, ist die Benennung eines Asteroiden nach Astrid Lindgren durch die russische Akademie der Wissenschaften die kurioseste – und der Ehrenpreis des Alternativen Nobelpreises die namhafteste. 1978 erhielt sie als erste Kinderbuchautorin den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Ihre Dankesrede „Nie wieder Gewalt!“ war ein weiterer Appell, eine gewaltlose Welt nicht aus den Augen zu verlieren. Wie die jugendliche Ronja Räubertochter ihres letzten Romans aus dem Jahr 1981 wollte sie unveränderbare Zustände nicht akzeptieren. Ihre Popularität setzte sie für Kinderrechte, den Tierschutz und für ein sozialeres Miteinander ein. „Wenn es überhaupt etwas gibt“, sagte sie einmal, „von dem ich mir wünsche, dass Kinder es aus meinen Büchern lernen, dann ist es, dass man Macht haben kann, ohne sie zu missbrauchen.“

Christina Zoppel

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