PNN-Serie: Macht Musik!: Hören mit dem dritten Ohr
Ein Konzert wie ein Fußballspiel: Mit dem Ohrphon können Schüler und Erwachsene im Nikolaisaal bei Proben der Kammerakademie Potsdam das Hören lernen. Wie das geht.
Potsdam - Es muss eine merkwürdige Stille für die Orchestermusiker sein: Eine Schulklasse ist bei der Konzertprobe, aber ausnahmsweise stört es nicht. Von den Kindern ist kaum etwas zu hören – denn sie hören zu. Sie haben auf einem Ohr einen Kopfhörer auf, ein Gerät an einem Band um den Hals hängen wie Touristen bei einer Stadtbesichtigung. Was dort der Audioguide ist, heißt hier Ohrphon. Statt eingespielter Sequenzen hören die Schüler eine Livemoderation. Es ist sozusagen wie der Kommentar zu einem Fußballspiel – und im besten Fall genauso spannend. Der Moderator sitzt in einer Kabine und kommentiert das Geschehen unten auf dem Feld, in diesem Fall der Orchestergraben. Erklärt wird, wer gerade am Ball ist: für die kleinen Zuhörer die einzelnen Instrumente und ihr Zusammenspiel, für die älteren manch Tempo- und Rhythmuswechsel bis hin zu Details des Dirigats oder der Komposition. Der Probenbesuch soll so zu einem Hörereignis werden.
Mit dem Orphon Orchestermusik näher bringen
Seit 2013 verwendet die Kammerakademie Potsdam das Ohrphon – nicht nur um Schülern, sondern auch erwachsenen Konzertbesuchern Orchestermusik näher zu bringen. Bundesweit ist dieses Angebot derzeit einzigartig. Das Kulturministerium hat die Kammerakademie und den Nikolaisaal unterstützt in der Anschaffung von 200 Geräten. Wenngleich es schon längst im Einsatz, ist das Ohrphon nach wie vor ein Experiment für die KAP. „Im Prinzip befinden wir uns fortwährend in einer Testphase“, sagt Nadin Schmolke, Musikvermittlerin der Kammerakademie Potsdam (KAP). Wie lässt sich das Hören am besten schulen? Ist es nicht eine Überforderung, gleichzeitig Verschiedenes zu hören? Kann der Moderator überhaupt reinsprechen, wenn das Orchester fortissimo spielt? Das alles sind Fragen, mit denen Musikvermittler wie Nadine Schmolke noch am Ohrphon tüfteln.
Auf alle Fälle verändert das Gerät die Perzeption von Musik. „Es ist eine andere Wahrnehmung bei den Zuhörern, innerlicher, fokussierter“, für die Orchestermusiker sei das sogar recht seltsam, sagt Nadine Schmolke. Die Universität Potsdam begleitet die Kammerakademie in ihrem Projekt. „Wir wissen, dass das Ohrphon das Hören verändert, aber noch wissen wir nicht wie“, sagt Juliane Niemeyer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Hörforschung und gleichzeitig Mitarbeiterin im Nikolaisaal. Juliane Niemeyer hat ihre Masterarbeit über Musikhören mit dem Ohrphon geschrieben. Dafür hat sie Schulklassen begleitet und Mitglieder des Hörclubs des Nikolaisaals befragt, die ebenfalls den Einsatz des Ohrphons probten.
Ungewohnte Hörerfahrung
Erste – erwartbare –Erkenntnis: Für die Kinder und Jugendlichen ist der Umgang mit dem Ohrphon viel intuitiver als für die Erwachsenen. Zum anderen ist der Probenbesuch mit dem Ohrphon eine durchaus ungewohnte Hörerfahrung: Bereicherung auf der einen Seite durch zusätzliche Wissensvermittlung, aber auch Überreizen des Hörsinns. Für den Einsatz im klassischen Konzert ausgeschlossen. „Das ist für manche ein Überschreiten einer Grenze.“
Das Ohrphon im eigentlichen Klassikkonzert zu verwenden ist denn auch für Nikolaisaal und Kammerakademie absolutes Tabu. An dem Ritual des Konzerterlebnisses darf nicht gerüttelt werden. Das habe auch die Auswertung unter den Mitgliedern des Hörclubs ergeben, so Juliane Niemeyer. Die Frage komme sofort, ob das Ohrphon auch im Konzert eingesetzt werde, „die Sorge ist immer da.“
Und dennoch kann das Ohrphon für Klassikunerfahrerene Erstaunliches leisten. Für wen klassische Orchestermusik nicht selten ein diffuser Klangbrei ist, kann durch Hörhinweise, die einzelne Stimmen kanalisieren und kompositorische Ideen erklären, die Komplexität der Klassik überhaupt erst begreifen. „Wenn das gut gemacht ist, kann das sehr hilfreich sein“, sagt Nadin Schmolke. Für den Livemoderator, selbst für Profis, wie sie die Kammerakademie einsetzt, ist das durchaus eine Herausforderung: Wie lässt sich klassische Musik am besten und womöglich innerhalb eines Taktes präzise beschreiben? Inhaltlich an die jeweilige Altersgruppe angepasst wird mal metaphernreich das Gehörte in Bilder übersetzt, mal musikwissenschaftlich-analytisch etwa das Kontrapunktische in einer Komposition dargestellt. Wichtig sei jedoch immer das genaue Timing. „Es ist ein sehr spontanes Format, für den Moderator die reinste Improvisation.“
Das Hören üben
Dass der Einsatz technischer Geräte letztlich ein Armutszeugnis und Zeichen mangelnder musischer Bildung ist, will Nadin Schmolke nicht gelten lassen: Gewiss fehle die Kultur des Hörens, gewisse Hörgewohnheiten, und Klassikkonzertbesuche stehen bei den wenigsten Menschen regelmäßig auf dem Programm. Aber zusätzliche Tools seien dazu da, das Hören zu führen und zu üben. Vorsichtig wollen Kammerakademie und Nikolaisaal sich an weitere Formate herantasten. Die Lautstärke einzelner Instrumentenstimmen ließen sich regulieren – auf einem bestimmten Kanal hört dann der der Ohrphonnutzer nur die Celli. „Ich bin mir relativ sicher, dass wir das ausbauen“, sagt Musikvermittlerin Nadin Schmolke. Nur das Klassikkonzert sollte man nach wie vor besser mit den eigenen Ohren hören.
PNN-Serie "Macht Musik": Wo Musik drinsteckt
Macht Musik – unter diesem Titel steht unsere neue Reihe für alle, die Musik lieben, Musik machen und etwas lernen wollen über Musik: Die Potsdamer Neueste Nachrichten und die Kammerakademie Potsdam haben sich für „Macht Musik“ zusammengetan, um die Musik in der Landeshauptstadt und ihrem Umland in den Fokus zu rücken.
Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Musik für Kinder und Jugendliche: Mit der Kammerakademie und ihren Klassenzimmerkonzerten bringen wir Musik in Kindergärten und Schulen. Doch nicht nur Musik und Bildung stehen im Fokus. Warum macht und hört der Mensch eigentlich Musik? Warum setzt sie Emotionen frei? Das und mehr beantworten wir in der heutigen zweiten Folge von „Macht Musik“. Die Themen, zu denen die Redaktion recherchiert, sind zudem auch erfahrbar – besser: hörbar. Zu jedem empfehlen wir die passende Veranstaltung oder die Kammerakademie Potsdam organisiert sie eigens für die Leser der Potsdamer Neueste Nachrichten. Dieses Mal können PNN-Leser Freikarten für eine Tagung zur Zukunft des Musikhörens gewinnen. Wir freuen uns, wenn Sie dabei sind!
Grit Weirauch
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