Die letzten Tage des Dritten Reiches: Heil Dönitz!
Volker Ullrich führt ein umfassendes Tagebuch der ersten Maiwoche 1945.
Die letzten Tage des Tausendjährigen Reiches? Nicht schon wieder, alle kennen doch den Film Der Untergang. Nur: Volker Ullrich, Historiker und langjähriger Redakteur der „Zeit“, käut hier nicht die ewig selben Geschichten wieder. „Die letzte Woche“ eröffnet eine sehr viel breitere Perspektive. Das Untergangsdrama spielt nicht nur in der Reichskanzlei, sondern auch im ganzen Reich. Es handelt von großen Verbrechern und kleinen Chargen, von Tätern, Opfern und Absurditäten im Angesicht des Grauens.
Die Eckdaten sind Hitlers Selbstmord am 30. April und die Kapitulation am 8. Mai 1945. Dazwischen liegen Chaos, Gewalt und vergebliche Hoffnung, die Ullrich in unzähligen Ereignissen zur großen Erzählung bündelt, die auch Kenner beeindrucken muss. Hitler ist tot. Das ist aber nicht das Ende. Die Rote Armee hat bereits das Innenministerium besetzt - und die eitlen Nazigrößen kämpfen um die Macht. Sie brüsten sich als Auserkorene, erkennen aber verbittert, dass der geliebte Führer sie bereits abserviert hatte. Plötzlich ist Großadmiral Dönitz die Nummer eins – nicht Göring, nicht Himmler.
Träume unterm Bombenteppich
„Heil Dönitz“, lästerten die in England internierten Generäle, immerhin begriffen sie in der Gefangenschaft schneller als die Kollegen in Berlin und Flensburg, dass „Klein-Hitler“, so die Generäle, keine „Machtmittel mehr hinter sich hatte“, wie Ullrich notiert.
Da schrieb man den 1. Mai, doch die Träume der Möchtegern-Erben schossen himmelwärts. Unter dem Bombenteppich wähnten sie, Großpolitik betreiben zu können, indem sie einen Keil zwischen die Alliierten trieben. Goebbels wollte mit den Russen einen Deal aushandeln. Umgekehrt fantasierte Himmler von einem Geschäft mit den Amerikanern und Engländern; der Hebel wäre deren Angst vor dem Bolschewismus. Es regierten Dummheit und Verblendung. Denn Deutschland konnte, durfte nur noch bedingungslos kapitulieren.
Doch wurde bis zum 7. Mai weiter fantasiert. Immer neue Hirngespinste. Derweil löste sich in Sichtweite der Russen die Reichskanzlei auf. Goebbels organisierte den Selbst- und Familienmord. Mit den Russen dealen, ja; in ihre Hände fallen, keinesfalls! Das durfte in diesem absurden Theater nicht die Schlussszene sein.
Es ist Ullrichs Leistung, dass er in dieser bizarren Woche weit über die Reichskanzlei hinausblickt. Er spürt dem Zerfall im ganzen Land nach. Mit seinem Blick für Drama und Tragödie zeichnet er nach: Flüchtlingsströme aus dem Osten, Todesmärsche aus den KZs, Gefangenenkolonnen deutscher Soldaten mit ihren leeren Gesichtern; die Epidemie der Angst vor Vergewaltigungen durch Rotarmisten. Im vorpommerschen Demmin geriet die Panik zum Massenselbstmord von 500 bis 1000 Menschen.
Am 2. Mai, als General Weidling auf Wunsch des russischen Generals Tschuikow einen Kapitulationsbefehl für Berlin zu Papier bringt und im Studio aufzeichnet, ist bereits die Gruppe Ulbricht aus Moskau in Berlin gelandet, um hier die Herrschaft unter sowjetischem Kommando zu organisieren. Doch Dönitz und seine Mannen verweigern immer noch die bedingungslose Kapitulation. Es wird weiter gestorben – auf beiden Seiten. Ein winziger Lichtblick: Am 4. Mai werden die Sonderhäftlinge in Dachau befreit.
Brutalität plus Feigheit
Während sich Dönitz noch am 5. Mai einbildete, eine Regierung hinzukriegen, brach in Prag der Aufstand aus, dem die Massenvertreibung der Deutschen aus Tschechien folgte. Mauthausen wurde befreit, aber Brutalität gepaart mit Feigheit hörte nicht auf. Am 6. Mai kapitulierte Breslau, dessen Gauleiter noch jeden Fluchtwilligen standrechtlich erschießen ließ, bevor er sich selber per Flugzeug absetzte. Krepieren sollten die anderen.
Am 7. Mai kam es schließlich in Reims zur Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation durch Generaloberst Jodl. Dönitz hatte einfach nichts kapiert. Er brandmarkte Eisenhowers Forderungen als „absolute Erpressung“. Jodl unterschrieb. Dönitz kriegte in Nürnberg zehn Jahre, Jodl den Strang.
Massaker in Amsterdam
Die Mordmaschinerie lief weiter. Am selben 7. Mai beendeten deutsche Marinesoldaten die Besatzung Hollands mit einem Massaker in Amsterdam. Auf dem Dam-Platz hatten sich Bürger versammelt, um die kanadischen Truppen zu begrüßen. 22 von ihnen bezahlten ihre Vorfreude auf die Freiheit mit dem Leben, 60 wurden verwundet. Ebenfalls am 7. Mai besuchte Marlene Dietrich, die nunmehr amerikanische Diva, Bergen-Belsen. Dort sei ihre Schwester Liesl, hatte sie erfahren. Die gefeierte US-Truppenbetreuerin Marlene wähnte, Liesl sei ihretwegen in Sippenhaft geraten. In Wahrheit hatte die Ältere ein Truppenkino geleitet, das auch SS-Männern Zerstreuung bot. Der Star war geschockt und verlangte von der Mitläuferin, nie wieder über die Blutsverwandtschaft zu reden.
Ein Gesamtkunstwerk
Es ist Ullrichs Verdienst, dass er viele Geschichten wie diese ausgegraben hat, um acht Tage in ein Gesamtkunstwerk zu verwandeln. Die Dietrich-Biographie auf mehreren Seiten auszubreiten – wie auch die der Familie Anne Franks hinsichtlich der Besetzung der Niederlande –, ist ein eher unnötiger Seitenstrang; ein paar Absätze hätten genügt. „Acht Tage im Mai“ ist ein faktenreiches, akribisch recherchiertes und zugleich faszinierendes Buch. Jeder Tag fesselt und wühlt den Leser auf. Es liefert fabelhaften Geschichtsunterricht in Corona-Zeiten.
Volker Ullrich: Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches. Verlag C.H. Beck, München 2020. 317 S. m. 21 Abb. u. 1 Karte, 24 €.
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