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Ungarns Premier Viktor Orban am 18. März 2016.
© dpa

Nation und Demokratie in Ostmitteleuropa: Grenzen der Gemeinschaft

Von damals zu Orbán: Georg Feldts Studie über oppositionelles Denken zur Nation im spätsozialistischen Ostmitteleuropa. Eine Rezension.

Unversehens geriet die Umbettung von Imre Nagy zum Staatsbegräbnis. Nicht nur hunderttausende Bürger strömten am 16. Juni 1989 auf den Budapester Heldenplatz, auch führende Vertreter des sozialistischen Regimes erwiesen dem 1958 wegen Hochverrats hingerichteten und in einem Massengrab verscharrten ungarischen Politiker die letzte Ehre. Gegen diese Vereinnahmung verwahrten sich allerdings die oppositionellen Initiatoren der Trauerfeier mit deutlichen Worten. So rief der junge Studentenführer Viktor Orbán zum Kampf für „nationale Unabhängigkeit und politische Freiheit“ auf. Einen Kompromiss mit den Machthabern schloss er damit kategorisch aus. Doch die Zeichen der Zeit standen auf Versöhnung, und Orbán blieb der Beifall zunächst versagt. Als der populistische Nationalist dann neun Jahre später die Regierungsgeschäfte übernahm, war das Entsetzen im Westen groß. Diese Ratlosigkeit herrscht bis heute, wenn sich in Ungarn, Polen oder zuletzt der Slowakei der Nationalismus bei Wahlen Bahn bricht oder dessen politische Repräsentanten mit markigen Worten zur Flüchtlingskrise das politische Europa brüskieren.

Selbst die „Philosophenkönige“ wurden in den jeweils anderen Ländern meist nur formal zur Kenntnis genommen

Wie der 1983 geborene Historiker Gregor Feindt in einer glänzenden Studie darlegt, zeugen diese Irritationen noch immer von einer verzerrten Perspektive auf die oppositionelle Bewegung Ostmitteleuropas zur Zeit des Spätsozialismus. Durch die Wahrnehmung wenig repräsentativer, zumeist postsozialistischer oder liberaler Intellektueller, habe sich im Westen, schreibt Feindt, ein lückenhaftes Bild von der Opposition in Ostmitteleuropa entwickelt. Dass selbst „Philosophenkönige“ wie Václav Havel, Adam Michnik oder György Konrád in den jeweils anderen Ländern meist nur formal zur Kenntnis genommen wurden, deutet er als Indiz für deren begrenzten Einfluss. Damit bringt er hinterrücks ein Deutungsmuster in Bedrängnis, das seit Jahrzehnten als Voraussetzung für den politischen Wandel in Osteuropa gilt: Mit der Rede vom „Wiedererstarken einer im Sozialismus unterdrückten Zivilgesellschaft“ sei man letztlich einer liberalen Teleologie aufgesessen, die nicht nur durch den bisher nur wenig erforschten Einfluss im westlichen Exil lebender Dissidenten verstärkt wurde, sondern auch konservative, nationalistische und autoritäre Spielarten des Nonkonformismus stillschweigend überging.

Entgegen solchen „kolonialen Attitüden“ hat Feindt die unabhängige Publizistik des „Samizdat“ („Selbstverlag“) seit Mitte der 1970er Jahre untersucht. Während er in keinem der drei betrachteten Länder die Relevanz von „Zivilgesellschaft“ verzeichnen konnte, stieß er auf eine umso wichtigere Rolle des Begriffs der „Nation“. Da beim oppositionellen Versuch, trotz Zensur und Verfolgung eine Gegenöffentlichkeit zu bilden, die Suche nach politischer Gemeinschaft im Vordergrund stand, fand sich im Samizdat eine große Vielfalt an politischen Konzepten zwischen Sozialismus, Liberalismus und Konservatismus zusammen. Im Begriff der Nation wurde dies greifbar. Durch die Verknüpfung von nationalen Traditionen mit liberalen Vorstellungen entwickelten Intellektuelle Nationenkonzepte, die nicht nur denen des Staatssozialismus widersprachen, sondern auch ganz pragmatisch oppositionelle Gemeinschaft stifteten.

Gerade die nationalkonservative Regierung Ungarns stellt die innere Einheit der Nation her

Das kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hier mit der essentialistischen, das heißt einer an traditionellen Nationalismen orientierten Auffassung vom Staat als historisch überlieferter Gemeinschaft und dem liberalen Konzept einer Kultur- oder Bekenntnisnation zwei prinzipiell unvereinbare Vorstellungen gegenüberstanden. Als nach 1989 mit der Zensur auch der Samizdat als Forum für Vermittlung und Widerspruch verschwand, prallten die beiden Positionen in Fragen der Integration von ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten, vor allem aber beim Umgang mit der eigenen Geschichte frontal aufeinander. Während liberale Politiker nicht selten auf eine Zusammenarbeit mit den ehemaligen Machthabern setzten, vollzogen Konservative oft eine scharfe Abgrenzung und schlossen den Staatssozialismus als illegitime Episode kurzerhand aus der jeweiligen nationalen Geschichte aus. Dies kam ebenso wie die Fokussierung auf Einzeltäter wiederum der Mehrheit der Bevölkerung zupass, da eine Diskussion über das zwischen Schweigen und Zustimmung pendelnde eigene Verhalten im Sozialismus somit vermieden wurde.

Wie Feindt überzeugend darlegt, stellt gerade die nationalkonservative Regierung Ungarns die innere Einheit der Nation her, indem sie die vergleichsweise liberale Phase des Kádárismus übergeht und zugleich im Zusammenhang mit dem Volksaufstand von 1956 permanent „ungarische Werte“ beschwört. Ähnlich wie in Polen wird damit durch innere und äußere Bedrohungsszenarien ein zunehmend essentialistisches Bild der Nation propagiert, das auf Aussonderung und ethnischer Unterscheidung beruht. Nachdem nationale Symboliken bereits den politischen Systemwechsel begleitet hatten, wurden inhaltlich unscharfe Begriffe der oppositionellen Bewegung wie „Bürgerrechte“ und „Freiheit“ zudem mit ethnischer und religiöser Intoleranz vereint.

Weil es zugleich den liberalen ehemaligen Oppositionellen nicht gelang, ihre politischen Konzepte in die postsozialistische Wirklichkeit zu überführen, verschwand dagegen die Utopie einer „oppositionellen Nation“, die nicht nur die sozialistische Staatsordnung, sondern mitunter auch die Nation als überzeitliche politische Gemeinschaft an sich infrage gestellt hatte. Weder der nun übernommene Begriff der Zivilgesellschaft noch die oft mit sozialer Unsicherheit verbundene Marktwirtschaft vermochten den jungen Demokratien ein Leitbild geben. Daher konnten sich, so Feindt, besonders in Ungarn und Polen schon bald nationalistische Stimmen Gehör verschaffen. Aber auch in der Tschechoslowakei verhallten die Appelle einer symbolkräftigen Figur wie Václav Havel für eine neue staatliche Wirklichkeit und die moralische Erneuerung der Nation weitgehend ohne gesellschaftliches Echo.

Gregor Feindt: Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft. Oppositionelles Denken zur Nation im ostmitteleuropäischen Samizdat 1976–1992. De Gryuter/Oldenbourg, Berlin 2015. 403 S., 49,95 Euro.

Moritz Reininghaus

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