Fontanejahr 2019: Ganz Brandenburg feiert Theodor Fontane
In Brandenburg wird der 200. Geburtstag Theodor Fontanes 2019 groß gefeiert. Auch seine unbekannteren Seiten werden gezeigt. Die Vorbereitungen laufen – eine Rundreise.
Potsdam - Die munter plätschernden Fontänen vor dem herrschaftlichen Gebäude sind wegen des ersten Frostes versiegt. Aber selbst im Winter wirkt das Alte Gymnasium im Herz der Neuruppiner Altstadt wie ein klassizistisches Schlösschen. Doch am Giebel des 1790 errichteten Schulhauses steht ein pädagogisch ehrgeiziger Spruch: „Civibus Aevi Futuri“ - Den Bürgern des künftigen Zeitalters.
Hier ging Theodor Fontane in seiner frühen Jugend von 1832 bis 1833 zur Schule. Später lobte er die Lehrer des Alten Gymnasiums für ihren milden Unterrichtsstil - nachdem er anderswo rigorose Zuchtmeister erlebt hatte. Das reichte ihm für eine Attacke auf bildungsbürgerliche Glaubenssätze. „Ich bekämpfe den Satz und werde ihn bis zum letzten Lebenshauche bekämpfen, dass der Normalabiturient ... die Blüte der Menschheit repräsentiert“, schreibt Fontane im Kapitel über Neuruppin und das Alte Gymnasium im ersten Band seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, der 1862 erschien. Und dann macht er klar, warum er den „Nicht-Mustermenschen“ besonders schätzt: „Das Beste, was wir haben, ist ohne diese vorgängigen Proben geleistet worden.“
Wenn der Berliner Schauspieler Alexander Bandilla, 68, literarisch interessierte Menschen auf den Spuren des berühmten Autors durch dessen Geburtsstadt Neuruppin führt, zitiert er diese Sätze mit besonderem Vergnügen. „Klingt aktuell“, sagt er, rückt seine Schirmmütze zurecht und lacht. „Das könnten auch heutige Comedians auf der Pfanne haben angesichts von Numerus clausus & Co.“ Bandilla liegt daran, Fontane „mal anders vorzustellen“, als ihn die meisten Menschen nach der Schullektüre zu kennen glauben. Fontane teils langatmig und spröde? Von wegen.
Deshalb liegt Bandilla voll auf der Linie des ambitionierten Jubiläumsprogrammes zum 200. Geburtstag Theodor Fontanes im kommenden Jahr. Unter dem Motto „Fontane 200“ soll der Romancier, Dichter, Journalist, Theaterkritiker, Kriegsberichterstatter, Chronist und literarische Wandersmann vom 30. März bis Ende Dezember 2019 abseits vertrauter Darstellungen neu entdeckt werden. Mit mehr als 100 Ausstellungen, Lesungen, Führungen, Theatershows und vielfältigen anderen Events in gut 20 brandenburgischen Gemeinden und Städten, veranstaltet vom Land und den Kommunen, von zahlreichen Museen und Kulturvereinigungen.
Komplett fontanisiert
Wie hat Fontane recherchiert und geschrieben? Wie hat er seine Welt erlebt? Welches Bild haben die meisten Menschen von ihm und seinem Werk? Was ist an seiner Person und seinen Schriften bis heute faszinierend? Also: Spot an, um vor allem Fontanes bislang eher unbekannte Seiten endlich ins rechte Licht zu rücken. Auf den Punkt lässt er sich nicht bringen. Man kann sich ihm nur auf verschiedenen Ebenen nähern. Wenn das keine Steilvorlage ist für Fontane-Fans wie Alexander Bandilla. Ab April wird der Schauspieler regelmäßig durch Neuruppin führen.
Ganz Brandenburg ist 2019 fontanisiert. Literaturwissenschaftler und Fontane-Freunde sind derzeit mit Hingabe aktiv, um den runden Geburtstag vorzubereiten. Zum Beispiel Peer Trilcke in der „Villa Quandt“ am Fuße des Pfingstbergs in Potsdam. Grüne Fensterläden, klare, klassizistische Linien, eine schicke Freitreppe. Die Villa gehört zum Unesco-Kulturerbe, sie ist nach ihrer einstigen Besitzerin im frühen 19. Jahrhundert Ulrike Augusta von Quandt benannt und beherbergt das Theodor-Fontane-Archiv der Uni Potsdam. Peer Trilcke, Professor für deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts, leitet das Archiv seit 2016.
Jetzt öffnet er im Lesesaal eine Flügeltür. Man kann sie nicht durchschreiten, eine Sicherheitsscheibe versperrt den Weg. Dahinter fällt der Blick auf das Allerheiligste: Alle Erstausgaben von Fontanes Werken stehen in einem historischen Buchschrank, drumherum nüchtern-graue Archivregale. Rund 20 000 Originalhandschriften und Notizen, Manuskripte und Drucke lagern in den klimatisierten Räumen der Villa, gesichert wie in Banktresoren. Alle wurden in den vergangenen Jahren digital erfasst. Und weil Fontane leidenschaftlich korrespondierte, besitzt das Archiv auch eine umfangreiche, gleichfalls gut gesicherte Briefesammlung. Der Lesesaal ist hingegen für alle offen, egal ob Forscher oder interessierte Bürger. Auch Führungen werden angeboten.
Internationaler Kongress
Aber zur Zeit konzentrieren sich Peer Trilcke und sein Team auf ein geradezu ultimatives Fontaneprojekt. Anlässlich „Fontane 200“ bereiten sie in Potsdam einen internationalen Kongress im Campus am Neuen Palais vor. Titel: „Fontanes Medien 1819-2019“. Rund 100 Literatur- und Medienwissenschaftler nehmen vom 13. bis 16. Juni teil. Was bedeuteten die Medien einst für sein publizistisches Schaffen? Wie lesen und reflektieren wir seine Texte heute in den neuen Medien?
Darum geht es, denn betrachtet man Theodor Fontanes Arbeitsweise näher, so wirkt er überraschend modern - „wie ein Prototyp des heutigen publizistischen Free Lancers“, sagt Peer Trilcke. Die rasanten Fortschritte von Telegrafie, Fotografie und des Zeitungswesens seit Beginn der Industrialisierung erlebte er nicht nur während seines Einsatzes als preußischer Korrespondent in London, immerhin galt die „Times“ damals als die innovativste Tageszeitung der Welt. Auch in Neuruppin bewunderte Fontane „die zivilisatorische Aufgabe“ des „Ruppiner Bilderbogens“ von Gustav Kühn, „der den Ereignissen nicht nachhinkt, sondern auf dem Fuß folgt“. Die Bilderbögen wurden als fliegende Blätter verkauft. Kurz, die neuen Chancen faszinierten ihn, er nutzte sie begeistert - weshalb man an Fontanes Karriere den damaligen Kommunikations- und Medienwandel gut nachvollziehen und das 19. Jahrhundert besser verstehen kann.
Fontane oft in Geldnöten
Um all das zu illustrieren, holt Trilcke nun ein paar Schätze aus dem Archiv-Fundus. Nummer eins ist das Wirtschaftsbuch von Fontanes Ehefrau Emilie. „Februar 1893, keine Einnahmen“ hat sie am Monatsende vermerkt. Die Familie war oft in Geldsorgen, Emilies Mann war lange Zeit kein vermögender Autor. Das zeigt auch ein Brief, den der jugendlich wirkende Archivchef, blaue Krawatte, blütenweißes Hemd, nun auf den Tisch legt. Theodor hat ihn aus London an seine Emilie geschickt. Billigpapier, extrem enge Zeilen. Um Papier und Porto zu sparen, sind sogar die Seitenränder beschrieben und schräg die Ecken.
Fontane musste sich in der damaligen Welt der neuen Medien permanent gut verkaufen. Nur als publizistisches Multitalent konnte er überleben. Also eignete sich der gelernte Apotheker leidenschaftlich das journalistische und schriftstellerische Handwerkszeug an, verfasste neben Romanen und Gedichten auch jahrzehntelang wöchentlich Kritiken über Berliner Theaterpremieren sowie die Projekte der kleinen und großen Künstler seiner Zeit - und leistete teils Kärrnerarbeit in Zeitungsredaktionen. Heute würde man sagen: Er produzierte am Desk.
Der Netzwerker
Zugleich warb er für den Abdruck seiner Erzählungen mit kleinen Exposés und erweiterte den Kreis seiner Förderer, indem er - aktuell ausgedrückt - eifrig netzwerkte. „Fontane wusste genau, wie man Themen für ein bestimmtes Zielpublikum platziert“, sagt Peer Trilcke. Griff ein Verleger zu, so erschienen seine Geschichten in der Regel erst mal häppchenweise als Serie in populären Wochen- und Monatsmagazinen. Trilcke sieht auch hier Parallelen. „Die Strategie ähnelte heutigen TV-Serien. Man wollte die Leser neugierig machen und an sich binden.“ Erst ganz zum Schluss kam die krönende Gesamtausgabe.
Der 36-jährige Professor zieht sich weiße Handschuhe an, dann hält er ein Buch in die Höhe. Ein lockiges Mädchen und verschnörkelte Goldschrift verzieren das Cover im frühen Jugendstil. Es ist die erste gebundene Komplettveröffentlichung von Fontanes letztem großen Roman „Der Stechlin“, herausgebracht 1898 vom damaligen illustrierten Unterhaltungsblatt „Über Land und Meer“.
Unermüdlicher Textarbeiter
Wie zum Kontrast legt Peer Trilcke ein chaotisch beschriebenes Originalblatt daneben. Durchgestrichene Wörter, Kritzeleien. Es ist das Schlusskapitel des „Stechlin“, eine der letzten Fassungen. Es zeigt den unermüdlichen Textarbeiter, der seine Entwürfe oft überarbeitete. Trilcke: „Es war Knochenarbeit.“ Seine Ehefrau musste die Seiten jedes Mal leserlich abschreiben. Dabei soll der familiäre Ton des Autors zuweilen recht machohaft gewesen sein. Das werde im Jubiläumsjahr keineswegs verschwiegen, sagt Trilcke. „Wir betreiben keine Denkmalpflege, stellen Fontane auf keinen Sockel.“ Alles werde reflektiert - auch seine herrischen wie fürsorglichen Seiten.
In Paretz bei Ketzin im Havelland sind die Aktiven des „Vereins Historisches Paretz“ dem publizistischen Tausendsassa der Mark aber erst mal „unendlich dankbar“. So bringt es ihr Vorsitzender Matthias Marr auf den Punkt. „Durch Fontane ging hier der ganze Tourismus los“, sagt er. Ausflugsdampfer schipperten schon zur Kaiserzeit von Berlin nach Paretz, die Passagiere wollten „Schloss Still-im-Land“ kennenlernen, wie Fontane das Paretzer Refugium von Preußens populärer Königin Luise und ihrem Mann Friedrich Wilhelm III. nannte. Das bürgerlichste aller preußischen Königspaare ließ sich 1797 seine Sommerresidenz in Sichtweite zur Havel bauen, und Architekt David Gilly gestaltete zugleich ganz Paretz zum Musterdorf im Sinne der Romantik um. An diesem idyllischen Landsitz tanzten nun Luise und ihr Mann aus der Reihe, feierten ausgelassen Erntedank mit dem ganzen Dorf. König und Königin mischten sich unter die Landleute, Bauern und Adel vergnügten sich zusammen, die Etikette war weitgehend außer Kraft.
Der Vergangenheit ganz nah
Wo bei Regenwetter „die Dungwagen steckengeblieben waren, schaukelten nun die königlichen Kutschen“, schildert Fontane in seinen Wanderungen durchs Havelland die Anfahrt der Reisegesellschaft nach Paretz. Fünf Mal war er ab 1860 im Dorf, ließ sich vom damaligen Hofgärtner Sulpiz Wilken, dessen Großvater das Königspaar noch in Paretz erlebt hatte, die Geschichten aus Luises „glücklichsten Tagen“ in Paretz erzählen. Und als er das Schloss besuchte, war ihm die Vergangenheit ganz nahe: „Als sich die Läden öffneten, schoss das Licht hinein ... es war, als solle das schöne königliche Paar, das hier lebte und lachte, jeden Augenblick wieder seinen Einzug halten.“ Wer heute durchs Schloss spaziert, erlebt ein kleines Wunder. Das noch in den 90ern arg heruntergekommene klassizistische Gebäude wurde bis 2001 liebevoll restauriert, vieles ist noch zu sehen, das Fontane beschreibt. Luises kleines Klavier, die reich verzierten Papiertapeten, das gemeinsame Schlafzimmer, eigentlich ein Graus für die damaligen höfischen Anstandswahrer. Die frühere Gutsscheune wurde als Kulturtreff wieder hergerichtet, die Dorfkirche sieht aus wie einst, überhaupt: Ganz Paretz ist inzwischen mustergültig saniert als Beispiel preußischer Landbaukunst. Die Stiftung Paretz und der Verein Historisches Paretz stärken das Gemeinschaftsgefühl, sie führen Fontanes Vermächtnis weiter. „Er hat ja die Erinnerung literarisch gesichert und die Wahrnehmung unseres Ortes bis heute maßgeblich geprägt“, sagt Vereinschef Matthias Marr.
Klar, dass sich auch die Paretzer bei „Fontane 200“ ins Zeug legen. Es gibt szenische Führungen im Schloss, Konzerte, Theater und als Höhepunkt am 28./29. September das vom Königspaar geliebte Erntefest mit „Markt und Tanz auf der Tenne“, genau so, wie es Fontane beschrieb.
Fontane-Fans auf der Spur
Von dessen Umtriebigkeit will auch Brandenburg an der Havel 2019 mehr denn je profitieren, besonders im Ortsteil Plaue an der Westspitze des Plauer Sees. Auch dort sind Fontane-Fans ihm selbst und seinem Werk auf der Spur, zum Beispiel Gunter Dörhöfer vom Förderverein Schlosspark Plaue e.V. Dass Brandenburgs eifrigster Wandersmann auch ein „Genussmensch“ war, erzählt Dörhöfer immer wieder gern, schließlich gibt es in Plaue dafür eine Steilvorlage.
Legt man nach einer Schiffsfahrt ab Brandenburg an der Havel über den Plauer See im Städtchen Plaue an, so steht der pensionierten Geologe Dörhöfer mitunter am Kai und führt seine Gäste erst mal zum Barockschloss am linken Havelufer und dann hinein in den Schlosspark. Die Besitzer des Anwesen von 1839 bis 1945, die Grafen von Koenigsmarck, ließen die wildromantische grüne Oase Mitte des 19. Jahrhunderts anlegen. Park und Schloss gefielen auch Fontane, über wenig Orte hat er so viel geschrieben wie über Plaue. „Am schönsten ist es aber doch am Rand des Sees. wo Weidicht und Rohr abwechseln“, schwärmte er vom Park. Vermutlich hat er dabei jene Stelle im Auge gehabt, an der heute unter Bäumen seine Skulptur steht. Der Dichter in Eile, mit gezogenem Hut. Zeit für ein Selfie mit Fontane.
Aber nun zurück zum Schloss, einer dreiflügligen Anlage, die Andreas Keuchel vom Berliner Busunternehmen „Gulliver Reisen“ seit vielen Jahren mit langem Atem herrichtet und gastronomisch sowie als Pension betreibt. Vieles ist hier noch stark sanierungsbedürftig, doch wer morbiden Charme mag, der wird Schloss Plaue lieben. Von der Schlossschenke sind es dann nur noch ein paar Schritte zur alten, jugendstilgeschmückten Plauer Stahlfachwerkbrücke und über diese hinweg zu jenem Ort, an dem sich Theodor Fontane vis-à-vis vom Schloss besonders wohlfühlte. Leider herrscht aber auch hier noch teils Verfall und Morbidität.
Wein und gutes Essen
Ziel sind der einstige Gutspark und die darin seit langem leerstehende Villa des zu Fontanes Zeiten illustren Privatiers Carl Ferdinand Wiesike. Der war ein lebensfreudiger, wohl etwas skurriler älterer Herr, leidenschaftlicher Anhänger der Homöopathie und Verehrer des Philosophen Arthur Schopenhauer. Fontane besuchte ihn von 1874 bis 1880 alljährlich im Sommer, beide verstanden sich bestens, genossen zusammen so manches Gläschen Wein und gutes Essen. Ganz im Sinne des Gastes. „Die Verpflegung“, heißt es in einem seiner Briefe, sei „für den Kulturmenschen eigentlich das Wichtigste“. Es waren verplauderte Stunden, Fontane zählte sie zu den „glücklichsten und bestangelegten“ seines Lebens. Seine Präsenz in Plaue wird 2019 nun gewürdigt: mit Theater im Park, einem Fontaneweg - und im Schloss mit einer erfreulichen Weinkarte.
Aber zurück in die einstige Grafschaft Ruppin. Aus der Luft besehen, schmiegt sich der Ruppiner See wie ein Halbmond ins Land. An seiner Südspitze liegt Karwe. In diesem Dorf und in Wustrau am gegenüberliegenden Seeufer startete der etwa 40-jährige Fontane ab 1859 seine literarischen Wanderungen. Kastanien und Lindenbäume, ein Kirchlein mit Friedhof, ein alter Gutspark, den Aktive des „Parkvereins Karwe“ wieder langsam herrichten. Nur das einstige Herrenhaus der Adelsfamilie deren „von dem Knesebeck“ fehlt, es wurde 1983 abgerissen. Auf Fontane wirkte es wie ein „düsteres Geisterhaus“, dennoch fühlte er sich dort offenbar recht wohl.
Mehrfach hat er die Knesebecks besucht, er durfte ihr Archiv durchstöbern und Memoiren ihrer Vorfahren studieren. Sie waren sein Vorbild für die Schilderungen der preußischen Adelswelt. Knapp 160 Jahre später sind in Karwe in diesen Tagen Gabriele Radecke und Günter Rieger dabei, eine Ausstellung über Fontanes „Arbeitsweise und seinen Umgang mit Informationsquellen am authentischen Ort“ zu gestalten. Die Räumlichkeiten ihrer Schau passen perfekt zu diesem Vorhaben: Die zwei Kuratoren können einen Teil des einstigen Pferdestalls des Knesebeckschen Gutes nutzen, wo in alten Zeiten mehr als 100 Kaltblüter standen. Ein Nachfahre der Adelsfamilie hat den Stall zur gediegenen Wohnung umgebaut und überlässt diese teils den Ausstellern.
Große Forschungslücke geschlossen
Günter Rieger ist Verleger und lebt in Karwe. Er hat seit der Wende gut 200 Bücher zur Kunst und Geschichte seiner Heimat herausgebracht. Man könnte sagen, Rieger setzt Fontanes Wanderungen durchs Ruppiner Ländchen mit frischem Blick neu ins Bild. Wenn der Dichter heute den weißhaarigen, 70 Jahre alten Verleger zum Kaffee besuchen würde, hätten die beiden viel zu plaudern. Riegers fachliche Partnerin Gabriele Radecke ist Literaturwissenschaftlerin an der Uni Göttingen und gehört zu den bundesweit profiliertesten Fontane-Experten. Sie hat in den vergangenen Jahren eine „große Forschungslücke“, wie sie sagt, geschlossen. Unter ihrer Leitung wurde ein Schatz aus dem Nachlass des Dichters, den Berlins Staatsbibliothek seit 1933 aufbewahrt, buchstäblich lesbar gemacht. Es handelt sich um 67 Notizbücher, die Fontane von 1859 bis 1880 führte. Mit rasch hingeworfener Handschrift, mit Krakeln und Abkürzungen, weshalb sie als kaum zu entschlüsseln galten. Aber das Göttinger Team hat nun rund 10 000 Seiten mit raffinierten philologischen und digitalen Methoden in Druckschrift übersetzt, kommentiert und im Oktober als digitale Edition ins Netz gestellt.
Geschichte und Geschichten
Wie Fontane ständig Informationen sammelte, notierte, skizzierte, aktualisierte, „sozusagen irre fleißig work in progress betrieb“, so Radecke, bis hin zu eingeklebten Presseausschnitten, das zeigt die Ausstellung neben vielen Dokumenten aus der einstigen Lebenswelt der Knesebecks. Fontanes Notizen waren sein Ideen- und Stoffdepot. Er ließ sich erzählen, am liebsten in Pfarr- und Herrenhäusern, war aber primär kein Historiker, der den Dingen mit wissenschaftlicher Akribie nachging. Ihm ging es um Geschichte und Geschichten.
Gabriele Radecke streicht die rötlich-blonden Haare zurück, lacht und präsentiert vor Karwes Dorfkirche die Kopie einer Notizbuchseite. Zu sehen ist die skizzierte Feldsteinpforte zum Kirchhof. Die drei gotischen, himmelstrebenden Durchgänge sehen heute noch genauso aus. Erst notiert und später in seinen Wanderungen beschrieben hat der Dichter auch das Kruzifix und die zwei dazugehörigen Kerzenleuchter auf dem Alter des Kirchleins. Man kann sie in Karwe 2019 am selben Platz bewundern.
Fontane wäre Blogger
Würde Fontane heute leben, so wäre er gewiss auch Blogger und würde alle neuen Medien bespielen. Es ist ja kein weiter Weg vom Allesnotieren zur Lust an Sprache und Publikation. Dem widmet sich seine Geburtsstadt Neuruppin, nur ein paar Autominuten von Karwe entfernt, mit einer Leitausstellung zu „Fontane 200“ im Museum der Stadt. Auch dort kann man Notizblätter, Briefe und Manuskripte entschlüsselt lesen. „Alles dreht sich bei uns um die Schreib- und Textwelten des Meisters“, sagt Museumschefin Maja Peers-Oeljeschläger. Um seine oft fein gedrechselten, ab und an mit einem Augenzwinkern versehenen Texte, um die Konstruktion seiner Erzählungen, um Rhetorik, Syntax, „den besonderen Fontane-Sound - und seine Wort(er)findungen“.
Private literarische Salons in Neuruppin
Was hat er alles erfunden? Rund 200 seiner Sprachschöpfungen begegnen Neuruppin-Besuchern ab 30. März 2019 in der Altstadt, auf hölzerne Stellwände und Aufsteller gemalt - von der „Weltverbesserungsleidenschaft“ über „Menschheits-Beglückungs-Spekulationen“ bis zu „Zärtlichkeitsallüren“. Und von dieser kreativen Sprachgalerie ist es nun nicht mehr weit bis zur Poesie Fontanes. „Ja, er hat auch begeistert Gedichte und Aphorismen geschrieben. Das wissen viele gar nicht“, sagt Uta Bartsch vom „Fontanebüro“ der Stadt. Ihre Lieblingsreime will die Kulturmanagerin im Mai, Juli und September in ihrem eigenen Garten rezitieren. An bestimmten Tagen verwandeln die Neuruppiner ihre Gärten und Höfe in literarische Salons. Jeder, der unter dem Motto „Hereinspaziert!“ in sein privatesRefugium einlädt, kann „seinen“ Fontane dann so vorstellen, wie er ihn liebt.
Gedichte im Gemüsegarten, Hörspiele im Ziegenstall - alles ist möglich. „Fontane war ein Lebenskünstler“, sagt Uta Bartsch, „der es verstand , die Welt mit einem Quantum Mumpitz so zu nehmen, wie sie ist“. Auch mit dem Altern hat er sich arrangiert. „Ich kann mir's länger nicht verhehlen, die Jugend geht, das Alter kommt“, rezitiert Uta Bartsch. „Beim Wein Geschichtchen zu erzählen, ist nun die Gabe, die mir frommt.“
Theodor Fontane war bei alledem bescheiden. Dem Berliner Verleger Wilhelm Hertz schrieb er 1889: „Alles, was ich geschrieben, auch die ,Wanderungen mit einbegriffen, wird sich nicht weit ins nächste Jahrhundert hineinretten, aber von den Gedichten wird manches bleiben...“