Ulrich Stan Preuß zum 60. Geburtstag: Fragmente eines Vergessenen
Der Potsdamer Ulrich Stan Preuß war Autor, Maler, Musiker und Regisseur. Am 9. November wäre der viel zu früh Verstorbene 60 Jahre alt geworden. Anlass für eine Wiederentdeckung.
Potsdam - Von dem Autor Ulrich Stan Preuß gibt es keine Bücher mehr. Fragt man bei Aufbau Verlag und Kiwi-Verlag nach: Fehlanzeige. Beide haben in den frühen 1990er Jahren Werke von dem Potsdamer Autor verlegt. Leider schon so lange her, lautet die Antwort. Längst vergriffen. Digitale Dateien gab es damals noch nicht. Ulrich Stan Preuß, Literaturpreisträger des Landes Brandenburg aus dem Jahr 1991, scheint aus der Literaturlandschaft verschwunden.
Wer den Autor, Regisseur, Musiker und Maler heute kennenlernen will, muss seine Werke zusammenklauben wie das Laub, das gerade draußen auf den Straßen liegt. Zum Glück gibt es Leuchttürme, die Licht in die vordigitale Zeit bringen. Ein Radiofeature aus dem Jahr 2016 gehört dazu, das viele wichtige Stimmen und Texte versammelt. Und Anne Preuß, die Schwester des Künstlers. Im Mai, mitten im ersten Corona-Lockdown, eröffnete sie im Stadtteil Eiche eine Galerie in der ehemaligen Post. Hier will sie eigene Arbeiten zeigen, aber auch an "die Preußen" erinnern. Der Eine ist der Illustrator Gerhard Preuß (1935-2014). Ihr Onkel.
Gestorben in einem Alter, wenn andere in Fahrt kommen
Der andere ist Ulrich Preuß. Am 9. November wäre er sechzig Jahre alt geworden: ein Alter, in dem andere literarisch erst richtig in Fahrt kommen. Dazu hatte Ulrich "Stan" Preuß keine Zeit. Als er am 14. Oktober 2000 starb, war er keine vierzig Jahre alt. Er hatte zehn Theaterstücke geschrieben, hatte zwei Bücher veröffentlicht, Musik gemacht und Musik produziert, und irgendwann zwischendrin auch noch Zeit zum Malen gefunden.
Drei von diesen Bildern hat Anne Preuß am 60. Geburtstag von Ulrich Preuß in ihrer Galerie aufgestellt. An den Wänden hängt die Ausstellung "Die Privatisierung der Sonne" mit kapitalismuskritischen Bildern und kalligrafischen Texten von Gerhard Preuß, dem Onkel. Die Bilder von Ulrich Preuß stehen provisorisch dazwischen wie düstere, zweiflerische Chiffren eines Künstlers, der sich noch im Selbstbildnis lieber verbirgt. Zu sehen sind fragmentierte Körperteile in Sepiafarben: ein Arm wie von einem Röntgenbild, eine Augenhöhle im Halbschatten, ein Gesicht, halb von einer Hand verdeckt. Ein Künstler als Puzzle. Verbindendes Element: ein roter Bindfaden, vertikal über alle Leinwände gespannt.
Schinken im Personalausweis
Was war der rote Faden im Leben von Ulrich Stan Preuß? Hört man seiner Schwester Anne beim Erzählen zu, lässt sich vermuten: Humor. Eigensinn. Anarchie. Ulrich Preuß lernte Klavier und Geige (ein Zufall, weil Bruder Peter keine Lust hatte), später brachte er sich selbst das Gitarrespielen bei. Als Jugendlicher kamen die Klosprüche dazu: "Extra dünnes Klopapier und der Erfolg liegt auf der Hand", so witzelte er gern. Später riss er sein Foto aus dem Ausweis und ließ Olaf Schwarzbach ein Bild hineinmalen. Noch später legte er eine Scheibe Schinken auf die betreffende Seite.
Wann Ulrich Preuß das erste Mal mit Polizei und ABV aneinandergeriet, weiß Anne Preuß gar nicht mehr zu sagen. "Meine Brüder haben viel Mist gemacht. Haben den Staat nicht ernst genommen.“ Der Staat sie hingegen schon. Ein Geburtstagsritual: Am 9. November, Ulrichs Geburtstag, auf dem Platz der Einheit Kerzen aufstellen, um an die Pogrome zu erinnern. Nicht ohne davor mit ein paar Bier zu feiern natürlich. Sie wurden regelmäßig festgenommen. Und auch von der Polizei verprügelt.
Wir leben noch/ wie lange noch/ wofür noch
Ulrich und Peter Preuß wohnten eine Weile zusammen in der Kastanienallee, dann wurden sie in getrennte Neubauwohnungen verfrachtet. Zunächst hatte Ulrich Auftrittserlaubnis als Musiker; ab 1983 nicht mehr. Er schrieb, aber an Veröffentlichungen war nicht zu denken. Also nahm er seine Texte selbst auf. Ein Gedicht von 1979: "Deutsches./ Lautes Krachen/ heller Schein/ böse oder gut/ heute sitzen lachen freu’n/ Wir leben noch/ wie lange noch/ wofür noch/ Fragen für die Angst/ Fragen für den Mut."
Ulrich Preuß und sein Bruder Peter sind Fans der britischen Rockband UFO, mit 15 gründen sie einen Fanclub. Seitdem lässt sich Ulrich Stan nennen. Peter heißt seitdem: Adolf. Beide Brüder arbeiten als Dekorateure bei der DEFA. Ulrich bis 1988, dann schlägt er sich durch, arbeitet sogar als Klomann im Neuen Palais. Über die Scham darüber hat er in "Ein Tag im Leben des Autors" geschrieben, veröffentlicht in einer Anthologie über Neue deutsche Literatur nach 1990.
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Was ist das für ein Leben, wenn die Welt brennt?
Anne Preuß und auch Peter ("Adolf") Preuß verlassen 1989 die DDR. Ulrich Preuß bleibt. "Der Garten und der See waren ihm einfach heilig", sagt Anne Preuß. Ulrich Preuß wohnt lange Zeit in der Allee Straße nicht weit vom Heiligen See. Nach dem Umbruch 1989 nutzt er die neu entstandenen Freiräume in der Schiffbauergasse. Schreibt Stücke, inszeniert sie in der Fabrik im damaligen Fischhaus. Anne Preuß zeigt Videoaufnahmen von damals: "12 Uhr mittags herrscht Gerechtigkeit" heißt das Stück. Junge Menschen, Nacktheit, Live-Musik. Klavier, Trompete. Anarchie, aber melodiös. Ein Chor ruft: "Spielen, spielen, spielen! Was ist das für ein Leben, wenn die Welt brennt?"
Mit der Unterstützung von Gerhard und Christa Wolf gelingt es Ulrich Preuß, seine skurrilen Kurzgeschichten zu veröffentlichen: "Wer hat die Ratte Erwin umgebracht?" Er ist stolz. Er erhält den Brandenburgischen Literaturpreis, erhält Stipendien auf Schloss Wiepersdorf. Ein Stück von ihm ("Steinberg") wird von dem Regisseur Jo Fabian mit der Band Inchtabocatables im Jahr 2000 am Berliner Hebbeltheater aufgeführt. Ein Erfolg.
Eine Rache des Systems?
Die Plakate dazu hängen noch, als Ulrich Preuß am 19. Oktober 2000 tot in seiner Badewanne aufgefunden wird. Von Beamten zunächst, die Familie erfährt erst zehn Tage später davon: Man habe die Adressen der Angehörigen nicht finden können, hieß es damals. Etwas, das Anne Preuß noch immer nicht ganz glauben kann. "Wir haben immer gesagt: Eine späte Rache des Systems", sagt sie. Ein Scherz, aber nur halb. Die Staatssicherheit hatte 26 IMs auf Ulrich Preuß angesetzt. In seiner Sterbeurkunde steht noch heute: Gestorben vom 13. bis 19. Oktober 2000. Anne Preuß sagt: Das hätte Stan gefallen.
Bis 31. November ist in der Galerie Preuß, Am Alten Mörtelweg 10, noch "Privatisierung der Sonne" mit Werken von Gerhard Preuß zu sehen.
Lena Schneider
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