Interview mit Tobias Wellemeyer: „Es ist so anstrengend, böse zu sein“
Tobias Wellemeyer leitete neun Jahre lang das Potsdamer Hans Otto Theater. Er wurde oft kritisiert: der Spielplan zu ernst, der Saal zu leer, er selbst zu zurückhaltend. Ein Gespräch über Potsdams Publikum, das Intendantendasein – und seinen Weggang ohne Groll.
Herr Wellemeyer, warum haben Sie sich in einer Ihrer letzten Potsdamer Inszenierungen gegen einen Baum fahren lassen?
Wie kommen Sie denn darauf?
In „Unterleuten“ hat eine Figur einen Autounfall, in einem märkischen Wald. Auf dem Nummernschild stand „B TW 0118“.
Ach so. Das war kein Regieeinfall, sondern ein Scherz der Requisite. Ich habe es erst auf der Hauptprobe gesehen, da war das Schild schon bestellt. Da habe ich gesagt: Na gut, das geht als Hitchcock durch.
Die Inszenierung knüpft an Ihren ersten Erfolg in Potsdam an, den „Turm“. Hatten Sie damals das Gefühl: Jetzt weiß ich, wie das Potsdamer Publikum funktioniert?
Es stimmt, den „Turm“ haben wir um die 60-mal gespielt. Da sind sehr viele Besucher gekommen, auch überregionale Besucher, viele auch aus Berlin. Man braucht als Programmmacher immer etwas Zeit, um herauszufinden, wie man mit einem Publikum spricht. Diese Mischung im „Turm“ – einerseits ein Inhalt, die Frage nach dem eigenen Woher und Wohin, auf der anderen Seite ein Theater, das ganz stark über die Figuren und die Schauspieler arbeitet – das war tatsächlich eine Bestätigung dessen, was wir an Haltung und Absichten entwickelt hatten.
Potsdams Publikum ist radikal, sagt der Schauspieler Bernd Geiling. Hat er recht?
Ich finde, er hat das sehr gut beschrieben. Allerdings würde ich das nicht so negativ konnotieren. Für mich hat das sehr stark mit der Ost-West-Aufgeladenheit zu tun, die es in Potsdam nach wie vor gibt. Es hat auch mit der starken Veränderung der Stadtbevölkerung zu tun, mit den vielen Instituten, die Menschen zeitweise in die Stadt holen, die dann wieder wegziehen. Es hat aber auch mit der großen Nähe zu Berlin zu tun. Damit muss man hier leben. Hier ist es so, dass die Leute sich kompromisslos entscheiden, wohin sie gehen wollen. Und dann ist es so, dass man hier ein Theater nicht so grundsätzlich positionieren kann wie in Berlin- Mitte. Hier muss man verschiedene Fenster öffnen für verschiedene Erwartungshaltungen. Wir haben in der Tat gelernt, dass wir über relevante Inhalte und Themen viele Zuschauer erreichen.
Einer der ersten Klassiker Ihrer Intendanz war ein großes Experiment: Der grandios scheiternde „Macbeth“ von Lukas Langhoff 2009. Danach sind Sie von solchen Experimenten abgerückt.
Ich habe die Anarchie von Lukas Langhoff sehr gemocht – und ich hatte die Erfahrung gemacht, dass das Stadttheaterpublikum auch so etwas aushält. Das hat hier nicht funktioniert. Möglicherweise ist das richtig, wenn Sie beobachten, dass man so eine Anarchie, wie sie in der Volksbühne oder im Prater Alltag war, in Potsdam nicht leben kann. Das finde ich aber nicht schlimm. Das hat auch damit zu tun, dass Zuschauer, die so etwas mögen, nach Berlin fahren. Wir haben aber mit Bruno Cathomas und Wojtek Klemm gearbeitet, die auch volksbühnengeprägt sind. Man muss immer mit einem Publikum arbeiten, nicht dagegen. Das wäre töricht. Und anmaßend.
Wenn man sich Ihre Intendanz anschaut, ist der Versuch, sich ständig neu zu orientieren, gut erkennbar. Ab 2011 Musicals.
Es gab leider auch Jahre, in denen es keins gab. Wir konnten fünf Musicals zeigen. Musicals sind ja sehr, sehr teuer. Wir konnten sie auch nur angehen, weil wir so tolle Sänger im Ensemble haben. „My Fair Lady“ ist ein großartiges Musical mit großartiger Musik. Mit Bernd Geiling, Franziska Melzer und Jon-Kaare Koppe war es auch wirklich hervorragend besetzt.
Neue Dramatik musste dafür aber erst einmal kürzertreten.
Wir haben die Orientierung auf zeitgenössische Texte jetzt gegen Ende hin sogar erhöht – und sie auch auf der großen Bühne gezeigt. Wir haben Schimmelpfennig gemacht, Lutz Hübner, John von Düffel, Christoph Nußbaumeder, Ayad Akhtar. Aus der Beobachtung heraus, dass das gesellschaftliche Klima sich verändert hat und die Zuschauer ein neues Interesse an Inhalten haben.
In meinen Augen wurde neue Dramatik erst 2015 mit Schimmelpfennigs „Das schwarze Wasser“ wieder richtig stark. In den Jahren dazwischen wurde statt Jelinek eher Lutz Hübner gespielt. Hat das damit zu tun, dass Ihnen der seltsame Vorwurf gemacht wurde, auch vom eigenen Kuratorium, dass es hier zu „ernst“ zugehe? Mit der Forderung, „ bekömmlicher“ zu werden?
Da haben Sie recht.
Heißt das, Sie sind weggegangen von dem, was Sie eigentlich machen wollten?
Das haben wir eben nicht gemacht.
Wie geht das zusammen?
Es gibt natürlich Rückmeldungen aus dem Publikum, aus der Presse, und auch vom Kuratorium. Die Städte speisen in Theaterhaushalte eine ganze Menge öffentliche Mittel ein – deswegen ist das ganz in Ordnung, wenn sie über Kuratorien dann auch abfragen, was vom Theater zurückkommt. Es gab ja auch öfter die Debatte: Warum ist der Saal nicht wie bei „Rio Reiser“ immer ganz voll? Wir hatten durchschnittlich 110 000 Besucher pro Jahr, im Vergleich mit anderen Schauspielsparten in Berlin, Brandenburg und darüber hinaus stehen wir da sehr gut da. In diesem Jahr werden wir einen Besucherrekord haben, mit etwa 116 000 Zuschauern. Dass ein Aufsichtsrat immer mal nach „Blockbustern“ fragt, ist völlig normal. Die Herausforderung in Potsdam ist, dass die „richtige Mischung“ aus Blockbustern und weniger konsensualen Stoffen immer wieder neu justiert werden muss. Ich musste in meiner 30-jährigen Laufbahn nie so viel nachjustieren wie hier.
Sie haben auch viel in neue Formate investiert. Stadt für eine Nacht zum Beispiel.
Das Thema Stadt war uns sehr wichtig. Wir haben Theater immer als einen Ort der Begegnung und des Diskurses begriffen. „Stadt für eine Nacht“ war seit 2010 unsere umfassendste Initiative. Wir haben angefangen mit dem Nachtboulevard, über 300 Mal hat er stattgefunden. Mit „Stadt der Zukunft“, dem Folgeformat, haben wir das inhaltlich nochmals zugespitzt und damit viele Zuschauer erreicht. Wir beenden die Reihe am 16. Juni mit dem „Tag der offenen Gesellschaft“. Migration, Stadtentwicklung, das waren unsere Themen hier. Dazu kam der „Refugees’ Club“, das war ganz praktische Integrationsarbeit, dafür hat das Projekt den Integrationspreis der Stadt Potsdam bekommen. Wir haben in der Stadt viel gemacht, mit der Bibliothek, mit Treffpunkt Freizeit, mit Carsten Wist, mit der Filmuniversität, mit der Fachhochschule, mit den Potsdamer Schulen.
Bei all dem, vieles davon Bemühungen der jüngsten Zeit: Ist es nicht bitter, wenn plötzlich der Oberbürgermeister sagt: Wir wollen jetzt aber neue künstlerische Impulse?
Ja, das ist auf den ersten Blick natürlich bitter. Das Loslassen fällt schwer. Wie soll das anders sein. Auf der anderen Seite ist es völlig OK, wenn es nach etwa zehn Jahren einen Wechsel gibt. Es ist nicht gut für das Theater, wenn sich da eine künstlerische Belegschaft lebenslang festsetzt.
Aber?
Ärgerlich war, dass wir von Seiten der Stadt doch sehr lange unentschieden hingehalten worden sind – und dass die Ampel erst einmal etwas anderes anzeigte. Dann plötzlich mit dem Gegenteil konfrontiert zu sein, war für viele Kollegen und mich sehr schwierig. Ich hätte mir gewünscht, dass man uns früher signalisiert hätte, dass hier ein Neuanfang, ein neues Team gewünscht wird. Dann hätten wir auch unsere Perspektiven mit dem eigentlich üblichen Vorlauf planen können. So ging das ein bisschen holterdipolter – um es vorsichtig auszudrücken. Es geht ja bei einem Wechsel nicht nur der Intendant, sondern auch die meisten Kollegen aus Dramaturgie, Schauspiel, Öffentlichkeitsarbeit. Das ist ein Vorgang, der mit extremen Schmerzen verbunden ist. Für das Publikum vor allem dann, wenn ein Ensemble auseinanderfällt. Das lässt sich bei einem solchen Wechsel nicht vermeiden.
Als Sie selbst 2009 kamen, haben Sie auch einige Spieler entlassen, eigene mitgebracht. Theaternormalität, oder?
Ich würde das Wort „Normalität“ in dem Zusammenhang nicht in den Mund nehmen. Es ist ein extrem schmerzvoller Vorgang. Vor allem, wenn man beispielsweise als Schauspielerin hier zwei Kinder an der Schule hat. Ich bin unterdessen ja auch älter geworden und würde vielleicht manche Entscheidung nochmal neu überdenken. Außerdem stellen sich im Theater heute insgesamt neue Fragen. In der Intendantengruppe, in der ich sehr aktiv bin, debattieren wir intensiv, wie die Vertragsstrukturen künftig geregelt sein könnten, damit solche Wechsel für die Ensembles nicht ganz so bruchreich passieren.
Sie sagten, dass Sie manche Dinge womöglich anders gemacht hätten. Was genau?
Zunächst: Das Theater bin ja nicht ich allein – auch wenn das in der Öffentlichkeit gerne so zugespitzt und oft auch ein bisschen emotionalisiert wird. Das Theater entsteht im Team. Das Programm ist aus einem Vielklang von Stimmen heraus entstanden. Ich glaube, ich habe meine engsten Mitarbeiter oft zu wenig gelobt. Das hat vielleicht etwas damit zu tun, dass ich auch mir selbst gegenüber oft sehr kritisch bin, mich selbst innerlich nicht häufig lobe. Ich denke permanent darüber nach, was ich hätte besser, anders machen können. Ich neige nicht dazu, mich selbst ungebührlich zu vergrößern. (lacht) Dafür vergesse ich auch alles Schlechte sofort.
Sie sind nicht nachtragend.
Nein, das halte ich nicht aus. Es ist so anstrengend, böse zu sein. Das wusste schon Brecht.
Das sieht man auch dem „Sturm“ an, Ihrer letzten Regie in Potsdam: Da verabschiedet sich jemand, der, obwohl er Grund dazu hätte, nicht im Groll gehen will. „Versöhnung zeugt von Größe, nicht Vergeltung“, heißt es einmal.
Ja, das hat mich an dem Shakespeare- Stoff interessiert. Es ist ja gewissermaßen eine Künstlergeschichte, und auch eine Vater-Tochter-Geschichte. Es geht um die Weitergabe der eigenen Welt an eine nächste Generation. Der Künstler befindet sich ja immer ein klein wenig neben der Welt und der Gesellschaft. Daher kommt auch seine existenzielle Differenz, die immer vermischt ist mit einer Verletztheit. Daher kommt diese Lust, Welt neu zusammenzusetzen im Spiel. Das fängt Shakespeare ein, in einer poetischen Intensität. Ich glaube, dass man das Stück in dieser poetischen Entrücktheit lassen muss. Dann wird das übertragbar, vielleicht nicht nur auf das Leben des Künstlers. Er beschreibt, dass die kommende Generation just dahin will, wovon Prospero wegwollte. Wenn Prospero Miranda liebt, muss er sie dahin ziehen lassen.
Fühlen Sie sich Prospero nah?
Sie meinen das Leben in den Büchern, in der Kunst? Ja sicher, ich habe ja mein halbes Leben im Theater verbracht. Das ist ein großes Privileg und kann auch ein Fluch sein. Der Abstand zur Welt bedeutet die Chance, sie neu zu sehen. Man muss allerdings aufpassen, dass man die aktive Haltung nicht verliert. Man kann Prosperos Geschichte auch als Rückzug beschreiben.
Haben Sie selbst sich manchmal zu sehr zurückgezogen von der Stadt? Auch ein Vorwurf, den es gab.
Ich bin nicht der Typ, der auf jeder Gartenparty aufschlägt. Ich bin viel unterwegs, sehe viel Theater, kommuniziere viel mit Kollegen über Theater. Die Hauptversammlung des Bühnenvereins war hier, das Ensemblenetzwerk. Ich habe die Kollegen im Haus damit regelrecht genervt, dass man das Theater über den Tellerrand hinaus begreifen muss, daher auch „Stadt für eine Nacht“ begründet. Gleichzeitig bin ich sicherlich nicht der Partykönig.
Ist nicht der Intendantenposten für Künstler ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit? Man lebt von der Innerlichkeit, muss gleichzeitig ständig nach außen repräsentieren.
Das ist zuweilen schon ein deutlicher Widerspruch. Das beschreiben Sie zutreffend.
Jetzt sind Sie erst einmal frei davon. Sie werden als freier Regisseur arbeiten.
Ich freue mich tatsächlich auf die neuen Städte, neuen Kollegen. Das hat auch etwas sehr Befreiendes, das stimmt. Ich bin froh über die vielen Arbeitsmöglichkeiten, zunächst in Bregenz, Halle, Weimar. Ansonsten ziehen wir erstmal aufs Land in Mecklenburg. Da koche ich dann für meine Familie Spaghetti.
Was an Potsdam wird Ihnen fehlen, wenn Sie in Mecklenburg Spaghetti kochen?
Das Heterogene, das weltläufige Klima. Die Nähe zu Berlin. Ich fand immer, dass in Potsdam eine großstädtische Atmosphäre herrscht – auf der anderen Seite hier aber auch die Provinz beginnt.
Was wird Ihnen bestimmt nicht fehlen?
Die Provinz. (lacht) Und die Dunkelheit auf der Schiffbauergasse zwischen Oktober und April.
Die Fragen stellte Lena Schneider
+++
ZUR PERSON
Tobias Wellemeyer wurde 1961 in Dresden geboren, wo er 1989 nach einem Studium der Theaterwissenschaft auch sein Regiedebüt gab. Bis 2001 war er Regisseur am Staatsschauspiel Dresden, dann Intendant der Freien Kammerspiele Magdeburg, ab 2004 Generalintendant des Theaters Magdeburg. 2009 erhielt er den Preis des Deutschen Kritikerverbandes und wurde er Intendant in Potsdam. Die Vorstellung seiner Abschiedsarbeit „Der Sturm“ am morgigen Sonntag ist ausverkauft, für den 2. und 3.6. gibt es noch Karten. Am 30.6. wird das Stück nochmals im Rahmen von „Stadt für eine Nacht“ gezeigt, hier ist der Eintritt frei.
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