„Israel in Ägypten“: Eine große, verstörende Bilderflut
Verena Stoiber inszenierte für die Potsdamer Winteroper „Israel in Ägypten“ von Händel.
Särge. Aufgestapelt zu einem Steg. Neue kommen hinzu. Getragen von Männern, denen der verheerende Krieg deutlich im Gesicht und auf den Körper geschrieben steht, von tief trauernden Frauen, die neues Leben in sich tragen. Die Bitterkeit und Nöte singen sie sich klagend zu. Doch das Trauern wird unterbrochen. Särge öffnen sich. Aus ihnen steigen Zombies, von denen jeder eine oder mehrere Aufgaben hat, das Volk für sich zu vereinnahmen, zu verführen oder zu terrorisieren. Gestalten, die in der Geschichte und in der Gegenwart nie aussterben. So beginnt die szenische Umsetzung des Oratoriums „Israel in Ägypten“ von Georg Friedrich Händel in der Friedenskirche Sanssouci. Am Donnerstag war Premiere.
Die Potsdamer Winteroper lässt die Zuschauer an der Interpretation der jungen Regisseurin Verena Stoiber, die 2014 den international begehrten Ring-Award im Wettbewerb für Regie und Bühnengestaltung erhielt, und ihres Teams Susanne Gschwender (Bühnenbild) und Sophia Schneider (Kostüme) sowie des Dirigenten Konrad Junghänel teilnehmen. Der sensible Ort der Friedenskirche, der als Ausweichspielstätte für das in Sanierung befindliche Schlosstheater im Neuen Palais gedacht ist, wird wohl auch im kommenden 13. Jahr seit Bestehen des Musiktheaterereignisses als Quartier bestehen bleiben, dann zum fünften Mal. Die Kooperationspartner Kammerakademie Potsdam und Hans Otto Theater sind jedoch glücklich über den großen Erfolg, den die Inszenierungen bisher in dem atmosphärisch dichten Raum ausstrahlen. Vor allem, weil die Werkauswahl mit biblischen Themen die Theaterabende so stimmig machen.
Händels 1739 in London uraufgeführtes Oratorium „Israel in Ägypten“ scheint für eine Theaterinszenierung ein harter Brocken zu sein. Den Auszug des israelischen Volkes aus Ägypten unter der Führung des von Gott eingesetzten Mose, das nach dem Tod des gerechten Herrschers Joseph unter dem neuen Pharao demütigende Sklavendienste verrichten musste, könnte man mit seinen erschreckenden und befreienden Wunder-Geschichten wohl eher im Theater mit seinen technischen Möglichkeiten erzählen.
Mit dem Oratorientext ist Verena Stoiber kaum konform, ebenso findet man eine Handlung im dramatischen Sinn nicht. Auch dem theologischen Aspekt vertraute sie nicht, dass die Exodus-Erzählung zum Urbild des Übergangs von der Gefangenschaft in die Freiheit, vom Dunkel zum Licht, vom Tod zum Leben geworden ist, vor allem für das jüdische Volk. Jahrtausende Menschheitsgeschichte geben ihr Recht. Sie erzählt Eigenes. Das kündigte die Regisseurin im Vorfeld bereits an. Dabei wollte sie allen Unrat der Geschichte, der sich bis heute weltweit über die Menschen legt, in ihre Inszenierung einfließen lassen.
Die in der Bibel ausgerufenen Plagen lässt Verena Stoiber wie in einem Film abspulen: Die Demonstrationen gegen Polizeigewalt und deren Niederschlagung, die Tötung von Kindern, der Aufstand eines einzelnen Mädchens gegen die Diktatur der Monarchie – in der Friedenskirche ist es eine Art Jeanne d’Arc, der der Scheiterhaufen droht. Angst und Schrecken sind fast ständig anwesend, aber auch deren Überwindung. Die Liebe zwischen Mann und Frau, die Geburt eines Kindes, das homosexuelle Erleben zweier Männer sind lichte Momente. Doch der Jubel der errungenen Freiheit schlägt um. Ein neuer König hat die Bühne betreten, die Diktatur scheint sich wieder durchzusetzen. Eine große Bilderflut, die allzu überakzentuiert inszeniert wurde, ist zu erleben, doch die schlichten Rezitationen von Gedichten der syrischen Lyrikerin Hala Mohammed durch die Sopranistin Marie Smolka sind die ergreifendsten Momente des Opernabends.
Musikalisch bescherten der Chor der Winteroper, der sich aus dem Vocalconsort Berlin und der Vocalakademie Potsdam zusammensetzt, sowie die Kammerakademie Potsdam unter der Leitung von Konrad Junghänel ein großes Hörerlebnis. Der Chor, der in diesem Oratorium die Hauptpartie singt, klingt vorbildlich klar intonierend und in den einzelnen Stimmgruppen durchhörbar geführt. Außerdem wartet er mit einer warmen Klangfülle auf, die auch in den polyphonen Chorsätzen nie verwaschen wirkten. Vom Klagen des Beginns über die mehr kommentierenden Passagen bis hin zum temperamentvollen Jubelgesang ist die Oratoriengestaltung des Chores von großer Kraft.
Von den Solisten, die nur mit wenigen Soli von Händel bedacht wurden, überzeugte der Altus Benno Schachtner stimmlich am meisten, in jeder Phrase differenziert und sinnlich, die Stimme leuchtete wunderbar aus dem Orchester hervor. Junghänels geschmeidiges Klangbild, das er mit großer Natürlichkeit auch mit der Kammerakademie ausbreitete, war nicht nur auf pure Schönheit bedacht, sondern gab der Lesart der Inszenierung mit ihren dramatischen und auch klagenden Elementen eine farbige Entsprechung. „Israel in Ägypten“ ist ein zumeist verstörender, ein aggressiver und anstrengender Abend.
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