Emilio Vedova: Ein Riese im Land der Zwerge
Der venezianische Künstler Emilio Vedova erlebte prägende Jahre in der Mauerstadt. Nun ehrt ihn die Berlinische Galerie mit einer Ausstellung.
Drachen steigen lassen, in den Himmel von Venedig, der jetzt, an diesem Wintertag, so blank gewischt und strahlend ist. Ein Kinderspiel. Ein Künstlerspiel. Und ein berühmtes Foto: Da steht Emilio Vedova mit seinem selbst gebastelten „Drachen für die Welt“, einer bemalten Leinwand, am Ufer der Lagune, und schwingt ihn in den Himmel, als wollte er gerade abheben, in diesen wolkenlos klaren Himmel hinein. Das war 1988, anlässlich der Aktion „Von Venedig nach Osaka – venezianischer Drachen“, und der Ort des Drachensteigenlassens waren die Zattere, die Uferbefestigung zur Giudecca hin.
Jetzt stehen wir wieder hier, zwanzig Jahre später. Emilio Vedova ist tot, gestorben im Oktober 2006, nur wenige Wochen nach seiner Frau Annabianca. Und geehrt wird er nun mit einer großen Retrospektive, die nach einer ersten Station in Rom ab 25. Januar in der Berlinischen Galerie zu sehen sein wird. Grund genug, sich noch einmal zum Hausbesuch einzufinden, in Vedovas Atelier an den Zattere, dort, wo der Drachen fliegen lernte. Und wo noch alles so aussieht, als sei der Künstler gerade erst von der Arbeit aufgestanden.
Untrennbar sind Künstler und Werk. Das erfuhr, wer jemals mit Emilio Vedova sprach und erlebte, wie er beim Reden immer gleichzeitig zeichnen musste, mit schwarzem Filzstift ins Notizbuch oder mit weißer Kreide auf die Tafel, ein schier unendlicher Redefluss, Striche, die sich überlagern, bis nur noch Schwärze bleibt oder Weiß. Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Zeichnen, hier konnte man sie im Zeitraffer erleben, und dass man dabei oft nichts verstanden hat, egal, ein Erlebnis war es immer. Jörn Merkert, Direktor der Berlinischen Galerie und gemeinsam mit der Vedova-Foundation Initiator der Ausstellung, kann anschaulich erzählen, wie er mit Vedova in seinem Atelier saß. Der Künstler zeichnete und sprach, in breitem, weichen Venezianisch, seine Frau Annabianca übersetzte, in das, was sie aus ihrem Berlinaufenthalt Anfang der sechziger Jahre noch an Deutsch erinnerte, ein Assistent mischte etwas Französisch und gebrochenes Englisch bei, ein babylonisches Kunstgespräch, mäandernd, wuchernd, über Stunden hinweg.
Ähnlich chaotisch ist auch die Ateliersituation in Venedig: Bescheiden der Eingang, der Name am Klingelschild handgeschrieben, unendlich schmal dann die Stiege, zusätzlich verengt durch einen altengerechten Treppenlift, und bescheiden, spartanisch die winzigen Wohnräume. Die Lage allein macht’s: direkt hinter Santa Maria della Salute, auf der Spitze der Insel, mit weitem Blick von der Dachterrasse über Lagune und Stadt. Sitzt man im Atelier, fahren die riesigen Touristenfähren auf Augenhöhe vorbei.
Hier saß der italienische Bildhauer Arturo Martini kurz nach dem Krieg und beobachtete einen jungen Künstler, der unten auf den Zattere mit dem Zeichenblock unterwegs war, zwischen Fischern, Matrosen und Lastenträgern. Dort hat Emilio Vedova angefangen, mit Skizzen aus dem venezianischen Alltag, oder von Kirchen, barock und prächtig, und alles in entschiedenem Schwarzton. Am Ende hat Martini ihm seine Wohnung vererbt: 1957 zieht Vedova ein und wird bis zu seinem Tod dort bleiben.
Venezianische Geschichten – warum dann aber eine Ausstellung in Berlin? Weil Vedova hier in den Jahren 1963 bis 1965 ein Hauptwerk, das „Absurde Berliner Tagebuch“ geschaffen hat – heute Blickfang der Berlinischen Galerie. Eine gigantische Rauminstallation aus bemalten, beklebten Leinwänden, gegeneinander gekippt, sich aneinander haltend. Die Erweiterung der Leinwand in den Raum ist Vedovas großes Thema, sichtbar an den kreisrunden, teils aus der Wand ragenden oder sich im Raum verteilenden „Tondi“ und „Plurimi“, die als Gegenpol zum „Berliner Tagebuch“ in der Ausstellung zu sehen sein werden. Entstanden ist die Technik in Berlin. Die versehrte Mauerstadt statt der bröckelnden venezianischen Bellezza: Inspiration genug für einen Künstler, dessen Werk aus Collagen, Fragmenten, Brüchen besteht.
Die Erschließung und Erweiterung des Raums bestimmte Vedovas Berliner Aufenthalt. Die zunächst in der Akademie der Künste am Hanseatenweg angebotenen Atelierräume waren dem Künstler zu klein. So kam es zur Wiederentdeckung von Arno Brekers monumentalem Atelier im Grunewald, heute Sitz der Bernhard-Heiliger-Stiftung.
Vedova hat sich diesen Raum, im dem Anfang der Sechziger noch Kulissen der letzten Ufa-Filme lagerten, offenbar wie ein Berserker angeeignet. Immer größer wurden die Arbeiten, um den monumentalen Räumen Kontra zu bieten. Es erinnert an eine Teufelsaustreibung, wenn man auf Bildern sieht, wie der 1,90-Mann gestenreich im Atelier agiert. „Emilio Vedova hat sich diesen gigantischen Raum unterworfen, und so prall voller angefangener und vollendeter ,Plurimi’ bestückt, dass schon der Eindruck drangvoller Enge entsteht“, schrieb Tagesspiegel-Kunstkritiker Heinz Ohff 1965 in seinem Abschiedsartikel für Vedova. „Die Wände, so hoch und so weit sie sich breiten, sind von oben bis unten mit Entwurfsskizzen, Photos, Notizen, riesigen bemalten Teilstücken aus Sperrholz und herausgerissenen Illustriertenseiten behängt, eine unwiederholbare Collage, vor der jeder Besucher steht wie Gulliver im Lande der Riesen.“
Vom Land der Riesen ins Land der Zwerge: Aus Berlin kommend, muss Vedova sein venezianisches Atelier puppenklein vorgekommen sein. Man erreicht es nur über eine Außentreppe, muss aus einem kleinen Fenster steigen, über Dächer laufen – man malt sich aus, wie oft der hünenhafte Künstler hier herumgeturnt ist. Im Inneren ein wucherndes kreatives Chaos, Zeichnungen, Paletten, Farbtöpfe, Leinwände, alles wild durcheinander; „ordine“, Ordnung, mahnt ein Pappschild an der Wand. Vedova selbst habe hier alles immer auf Anhieb gefunden, erzählt Fabrizio Gazzarri, sein ehemaliger Assistent, der nun als Direktor der Vedova-Stiftung verzweifelt versucht, Ordnung ins Chaos zu bringen und die Berge von Zeichnungen, Entwürfen, Bildern zu inventarisieren. Und doch zur Kenntnis nehmen muss, dass der Besucher nostalgisch vor diesem Monument künstlerischer Kreativität steht und wünscht, es möge alles so bleiben.
Für die Riesenarbeiten, die ab den Sechzigern für die Documenta in Kassel, die Biennale von Montreal und später für Venedig entstehen, war hier kein Platz. Kein Wunder, dass Vedova größere Räume sucht und im „Emporio dei Sali“ fündig wird, den Salzmagazinen aus dem 16. Jahrhundert, einige Meter weiter an den Zattere. Hier soll ein Vedova-Museum entstehen, entworfen von Renzo Piano. Als Vedova auf die Gebäude aufmerksam wurde, wollte die Stadt Venedig gerade die Hallen zugunsten eines Schwimmbads abreißen lassen. Die Bürgerinitiative, die Vedova zusammentrommelte, verhinderte den Plan.
Inzwischen sind die Spuren verwischt, die Protagonisten von damals versprengt. Luigi Nono, der Komponist und Freund, der Vedova für zwei seiner Opern als Bühnenbildner engagierte und nur wenige Meter weiter an den Zattere wohnte, starb 1990. Der Philosophieprofessor Massimo Cacciari ist heute Bürgermeister von Venedig. Und doch ist in der venezianischen Jetset-Glitzerwelt, die zwischen Sammelgiganten wie der New Yorker Guggenheim Foundation und dem französischen Sammler François Pinault laviert, merkwürdig wenig Platz für das venezianische Urgestein Vedova. Die Dogana, die Spitze der Salute-Insel, wenige Meter vom Atelier entfernt, wurde gerade an Pinault zur Erweiterung seines schon im Palazzo Grassi angesiedelten Museums vergeben. Wann das kleine Vedova-Museum im „Emporio dei Sali“ eröffnet, steht in den Sternen.
Emilio Vedova 1919–2006. Berlinische Galerie, 25. Januar bis 24. April.
Christina Tilmann
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