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Eine improvisierte Mauer auf dem Maidan, mit Blumen, Kerzen und Ketten.
© dpa-bildfunk

Die Ukraine, Putin und Europa: Ehre und Bitterkeit

Der Blick vom Maidan auf Putin und Europa: Ein essayistischer Sammelband analysiert die ukrainische Revolution und ihre Folgen.

Die Frage harrt noch einer Antwort: War das, was sich in den vergangenen Monaten in der Ukraine bis zum Sturz Viktor Janukowitschs und der Krim-Annexion durch die Russen abgespielt hat, eigentlich eine Revolution? Während die Maidan-Demonstranten und deren Befürworter es genau so einschätzen, scheut man sich in Europa, diesen Begriff zu gebrauchen. Hier ist bevorzugt von der „Ukraine-Krise“ oder dem „Ukraine-Konflikt“ die Rede.

Es ist der Lemberger Germanist und Schriftsteller Jurko Prochasko, der in dem von Juri Andruchowytsch herausgegebenen Essayband „Euromaidan“ auf diese unterschiedlichen Ansichten der Situation in der Ukraine hinweist. „Ist das Wort zu stark, zu eindeutig?“, fragt Prochasko an die Adresse Europas gerichtet. „Oder zu vage, zu romantisch, zu kitschig, zu erhaben? Wird das Geschehen am Ende nicht noch im Chaos versinken und den Begriff der Revolution kompromittieren, den man im europäischen, aber auch im russischen Sprachgebrauch für etwas Edles und Gutes reserviert?“

Dass die Verhältnisse in der Ukraine mit den Entwicklungen im Osten des Landes tatsächlich zunehmend chaotischer wurden, konnte Prochasko nicht ahnen, als er für dieses Buch seinen Essay über die „Kleine Europäische Revolution“ schrieb. Geplant wurde „Euromaidan“ von der Suhrkamp-Lektorin und Osteuropa-Kennerin Katharina Raabe im Februar 2014, als Janukowitsch noch gar nicht außer Landes war, und die Beiträge liefen dann allesamt Ende März ein, da Putin die Krim schon annektiert hatte, aber die prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine noch nicht ihr Unwesen trieben. Es liegt der Schluss nahe, die Ereignisse hätten viele der Buchbeiträge überflüssig gemacht, diese würden höchstens noch zu historischen Dokumenten taugen. Aber dem ist keineswegs so, gibt es hier doch erstmals eine relativ umfassende, Europa und Russland genauso wie Historie und Geopolitik in den Blick nehmende Analyse dessen, was sich in der Ukraine zuträgt.

Es sind dabei die Schriftsteller Serhij Zhadann, Juri Andruchowytsch, Katja Petrowskaja oder Tanja Maljartschuk, die noch einmal die Entwicklungen gerade auf dem Maidan Revue passieren lassen. Sie erzählen von den Menschen, die sie getroffen haben, von den Ereignissen, wie sie sie wahr-, aber auch an ihnen teilgenommen haben. Und sie berichten, was die ukrainische Revolution mit ihnen gemacht hat, sei es, dass Tanja Maljartschuk seitdem unter einer angstneurotischen Störung leidet, sei es, dass Katja Petrowskja von der eigenen Ehre spricht, aber auch von Bitterkeit: „Denn wer diese Ehre erst einmal entdeckt hat, den wird viel Bitteres erwarten.“

Es gibt eine Ignoranz gegenüber der ukrainischen Subjektivität

Noch erhellender sind die politischen, eher theoretischen Beiträge, deren Fokus nicht zuletzt auf Putin und Russland zielt. Martin Pollack beschäftigt sich mit den Tricks der russischen Propaganda, mit deren Vorwurf, in der Ukraine würden Faschisten und „wilde Antisemiten“ regieren. Daran anschließend widmen sich der Osteuropa-Historiker Timothy Snyder und der Londoner Parteienforscher Anton Shekhovstov den real existierenden rechten ukrainischen Parteien wie Swoboda und dem Rechten Sektor. Diese haben keine besonders große Anhängerschaft, von drei bis sechs Prozent aller Wählerstimmen gehen Meinungsumfragen aus, wurden aber erst von Janukowitsch und jetzt von den Russen als „Gegner- und Parteienattrappen“ instrumentalisiert, um andere oppositionelle Gruppen entscheidend zu schwächen. „Das Treiben des Rechten Sektors und die unnötige Konzentration der Aufmerksamkeit auf diese Partei“, so Shekhovstov, „könnten nach der Revolution in der relativ instabilen Ukraine auch als Mittel dienen, um die ukrainische Gesellschaft zu polarisieren, die ehemalige, gegen Janukowitsch gerichtete Opposition zu spalten und die separatistischen Bestrebungen im Süden und Osten des Landes weiter zu befeuern.“

Was sich durch viele der Beiträge wie ein roter Faden zieht, ist die Irritation, um nicht zu sagen: Enttäuschung über die Reaktionen in Europa. „Wie kommt es, dass ausgerechnet die Antisemitismus- Vorwürfe gegen den Maidan und die neue Ukraine bei Intellektuellen im deutschsprachigen Raum fallen?“, fragt etwa Martin Pollack. Jurko Prochasko spricht von „putinesken“ Unterstellungen Europas bezüglich der Revolution, von der Ignoranz gegenüber der „ukrainischen Subjektivität“: „Die Ukraine ist heute wieder das klassische Mitteleuropa, das ungefragt genommen wird und über dessen Köpfe hinweg man entscheidet.“ Der Schriftsteller Mykola Rjabtschuk geißelt die vielerorts in Europa vorherrschende Abneigung, „das krypto-faschistische Putin-Regime als das zu sehen, was es seiner Natur und seinem Namen nach ist“ und warnt im Hinblick auf die baltischen Staaten: „Eine Invasion, der man heute in der Ukraine mit einigen, womöglich massiven politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen Einhalt gebieten kann, könnte schon morgen einen Militäreinsatz der Nato erzwingen.“

Wie schwer aber alles noch wird, wie komplex es sich darstellt, macht am Schluss des Buches der polnische Schriftsteller Andrej Stasiuk deutlich, der von einer Reise nach Russland erzählt, und zwar nach Sibirien und dem Fernen Osten. Die Erfahrung des grenzenlosen Raums lässt Stasiuk erkennen, dass Russlands Geschichte mehr im Raum als in der Zeit spielt und es mitnichten so ist, dass „unsere Wahrheiten für alle Welt selbstverständlich seien“.

Juri Andruchowytsch (Hg.): Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Edition Suhrkamp, Berlin 2014. 207 Seiten, 14 Euro.

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