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Die Wolken waren zu erkennen. Der Zeppelin „Hindenburg“ schwebt über dem Olympiastadion. Foto: Imago
© imago/ZUMA Press

Olympische Spiele 1936: Die Welt zu Gast bei Feinden

Ein letzter Tanz noch: Oliver Helmes beschreibt die Atmosphäre in Berlin während der Olympischen Spiele 1936. Eine Rezension.

Die Olympischen Spiele von Berlin 1936 waren der größte Propaganda-Erfolg des nationalsozialistischen Regimes. So friedvoll und weltoffen sollte sich das von Adolf Hitler regierte Deutschland nie wieder präsentieren. Zehntausende Touristen aus aller Herren Länder reisten an, der afroamerikanische Leichtathlet Jesse Owens gewann vier Goldmedaillen, die Zeitungskästen, in denen das antisemitische Hetzblatt „Der Stürmer“ aushing, waren abmontiert worden, und die Straßencafés und Tanzpaläste der Hauptstadt waren überfüllt.

Aber diese 16 Tage im August sind eine Inszenierung, nichts als eine Showveranstaltung. Oliver Hilmes nennt die Spiele den Höhepunkt einer „großen Heuchelei“. Im Frühjahr 1936 hatten deutsche Truppen das Rheinland besetzt, Hitler forderte in einer Denkschrift, Deutschland brauche „neuen Lebensraum“, weil es „überbevölkert“ sei. Armee und Wirtschaft müssten in vier Jahren „kriegsfähig“ sein. Der Zweite Weltkrieg war nicht mehr aufzuhalten.

Viele Künstler stellen sich willig in den Dienst von Goebbels’ Propaganda

Hilmes beschreibt in „Berlin 1936“ das Sportfest in einer Art Tagebuch. Es beginnt am Samstag, 1. August, mit der Eröffnungsfeier im Olympiastadion, bei der der größte bisher gebaute Zeppelin „Hindenburg“ über hunderttausend Besuchern kreist. Am Ende, Sonntag, 16. August, stehen neue Rekorde fest: Mit 89 Medaillen hat es Deutschland zur erfolgreichsten Nation gebracht, gefolgt von den USA und Ungarn. Auf dem Wilhelmplatz skandieren tausende, vielleicht zehntausende Schaulustige vor der Reichskanzlei: „Lieber Führer, sei so nett, zeige dich am Fensterbrett.“ Hilmes konstatiert süffisant: „Hitler macht ihnen die Freude.“

Der Autor, bekannt geworden mit seiner Biografie „Witwe im Wahn“ über Alma Mahler-Werfel, erzählt in einer Mischung aus Anekdote und Analyse. Aus vielen kleinen Szenen ergibt sich ein Panorama, eine literarische Strategie, die Florian Illies mit seinem Jahreszahlen-Buch „1913“ in Deutschland etabliert hat. Diese Nahsicht ist die Stärke des Buches und gleichzeitig sein Dilemma. Denn wirklich nah kommt der Leser den Protagonisten nicht, weil der Text nach drei, vier Seiten zur nächsten Geschichte, zum nächsten Schauplatz springt. „Berlin 1936“ hat drei Dutzend Helden, die immer wieder auftauchen, von Prominenten wie der Dichterin Mascha Kaléko, die in diesem Sommer dabei ist, sich von ihrem Ehemann zu trennen, bis zum Maurermeister Erich Arendt, der alkoholisiert in einem Nachtlokal brüllt: „Adolf Hitler ist pleite, und ich bedaure, dass ich 1929 in die Partei eingetreten bin“ und festgenommen wird.

Viele Künstler stellen sich willig in den Dienst von Goebbels’ Propaganda. Richard Strauss schreibt eine „Olympische Hymne“ für Chor und großes Sinfonieorchester, schimpft aber über den „Sportunfug“. Er laviert zwischen Verachtung und Mitmachen. Als er im Dezember 1934 mit der Arbeit beginnt, schreibt er an Stefan Zweig: „Ich vertreibe mir in der Adventslangeweile die Zeit damit, eine Olympiahymne für die Proleten zu componieren.“ Doch er hat nichts dagegen, dass später auf Druck von Goebbels der Text im Sinne des Regimes verändert wird. Aus der Zeile „Friede soll der Kampfspruch sein“ wird „Ehre soll der Kampfspruch sein“. Sein Honorar beträgt 10 000 Reichsmark. „Der Scheck heiligt die Mittel“, schreibt Hilmes.

„Es war die Seuche des Geistes – unsichtbar, aber unverkennbar wie der Tod“

Zu den Hauptfiguren des Buches gehört Thomas Wolfe. Der amerikanische Schriftsteller, der sich bei einem früheren Aufenthalt in Berlin verliebt hat („eine der wirklich bedeutenden Metropolen dieser Welt“) und nun im Hotel am Zoo absteigt, ist ein Enthusiast und Ironiker. Adolf Hitlers Fahrt zum Olympiastadion beschreibt er mit sanftem Spott: „Langsam näherte sich der blitzende Wagen des Führers, kerzengerade, ohne eine Bewegung und ohne ein Lächeln stand er darin, ein kleiner, dunkler Mann mit einem Operettenbärtchen.“ Mit seinem Verleger Ernst Rowohlt und seinem Übersetzer Heinrich Maria Ledig unternimmt Wolfe Fress- und Sauftouren durch die Restaurants und Bars der Hauptstadt. Den Vormittag beginnt er mit einem Bier im Café Bristol, zum Lunch bevorzugt er Weißwein, nachmittags genehmigt er sich Whisky und zum Dinner wieder Weißwein. Der Aufenthalt in Berlin wird für ihn zu einem einzigen Rausch. Selbstverständlich bestreitet Wolfe, ein Alkoholproblem zu haben, er trinkt, so Hilmes, „aus purer Lebensfreude“.

Von den Olympischen Spielen ist Wolfe beeindruckt. „Ohne irgendwelche Erfahrungen auf diesem Gebiet hatten die Deutschen ein gewaltiges Stadion errichtet, das schönste und vollkommenste seiner Art“, schreibt er. „Die Menschenmassen wurden mit einer verblüffenden Ruhe, Ordnung und Geschwindigkeit gelenkt – Menschenmassen, die sicherlich den New Yorker Verkehr hoffnungslos durcheinandergebracht hätten.“ Doch dann lernt Wolfe bei einem Empfang die Englischlehrerin Mildred Harnack kennen, die später als Widerstandskämpferin hingerichtet werden sollte. Sie erzählt ihm vom Terror der Nationalsozialisten, von den Angriffen auf Juden, Kommunisten, Schwule und Lesben. „Es geschah nicht plötzlich, sondern etwa so, wie eine Wolke sich zusammenzieht, wie ein Nebel sich verdichtet oder wie es zu regnen beginnt“, so beschreibt er seinen Reifungsprozess. „Es war die Seuche des Geistes – unsichtbar, aber unverkennbar wie der Tod.“ Deutschland hat er nie wieder besucht.

Berlin ist in diesen Wochen eine geteilte Stadt. Hermann Göring lädt zu einem Fest im Garten seines Reichsluftfahrtministeriums ein. Der Aufwand ist immens. Herolde in mittelalterlicher Tracht verkünden den Beginn der Feier, ein ganzes Dorf im Miniaturstil ist aufgebaut worden. „,So etwas gab es seit der Zeit Ludwigs XIV. nicht mehr’, sagte jemand zu mir“, erinnert sich der britische Politiker Henry Channon in seinem Tagebuch. „,Nicht seit Nero’, erwiderte ich.“ Joseph Goebbels überbietet seinen Konkurrenten noch und lässt die Pfaueninsel mit tausenden schmetterlingsförmigen Lampen illuminieren. Die Party mündet in ein halbstündiges Feuerwerk. Kostenpunkt der Festivität: 320 000 Reichsmark.

Besucherinnen improvisieren halb nackte Tänze

Als Gegenwelt zu diesen staatstragenden Empfängen beschreibt Hilmes die Berliner Bars und Tanzpaläste, in denen noch etwas vom anarchischen Geist der Weimarer Republik überlebt hat. Hier wird eine Musik gespielt, die den Machthabern verhasst ist: Swing. Im Quartier Latin an der Kreuzung Nürnberger Ecke Kurfürstenstraße, das von Hubert von Meyerinck, Ernst Udet und Axel Springer frequentiert wird, improvisieren Besucherinnen schon mal halb nackte Tänze. „Das Quartier Latin ist ein Vulkan, und an diesem Abend tanzen die Gäste. Für ein paar Stunden scheint das ,Dritte Reich’ nicht zu existieren“, schreibt Hilmes.

Die Scala, das Varieté-Theater in der Lutherstraße, präsentiert unter dem Titel „Herrliche Welt“ eine Revue mit hauptsächlich amerikanischen Artisten und Tänzerinnen. „Herrliche Welt des Scheins“, jubelt der „Berliner Lokal-Anzeiger“. In der Ciro-Bar in der Rankestraße sind die neuesten Jazz-Schlager zu hören. „Wir hatten Gäste von den Botschaften, die haben uns vorgepfiffen oder vorgesungen, was gerade aktuell war in Amerika oder England“, erinnert sich der Pianist der Ciro-Band. Und im Delphi-Palast an der Kantstraße gastiert vier Monate lang der Schweizer Saxofonist Teddy Stauffer mit seinen „Original Teddies“. „Die Amerikaner waren da“, erzählte er später. „Ihre Anwesenheit inspirierte uns zu einem noch nie dagewesenen Rhythmus. Die Abende waren von unbeschreiblicher Stimmung. Und mit den Amerikanern tanzten die Berliner.“ In diesem Sommer der Ausschweifungen schöpften viele Menschen Mut. Aber der Frieden, den Hitler beschworen hatte, war eine Illusion.

– Oliver Hilmes: Berlin 1936. Sechzehn Tage im August. Siedler Verlag, München 2016. 304 Seiten, 19,99 Euro.

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