Don DeLillo: Die Stunde der Steine
Menschheitsdämmerung: Don DeLillo träumt in seinem neuen Roman "Der Omega-Punkt" vom Sprung in ein Jenseits der Biologie.
Die Geschichte des Universums gönnt dem Menschen nur eine Episode. Lange bevor die Ozeane verdampfen, die Erde sich selbst verschlingt und die Sonne als Schwarzer Zwerg erlischt, wird er ins Nichts zurückgesunken sein und kann sich höchstens mit dem einzigartigen Privileg trösten, darüber nachzudenken, ob es sich gelohnt hat, die Augen aufzuschlagen. „Das Leben als Erscheinung war doch überhaupt in der Pflanze gut untergebracht, warum es in Bewegung setzen und auf Nahrungssuche schicken“, fragte Gottfried Benn in seiner Erzählung „Weinhaus Wolf“. „Ein Weg ist ausgegangen, ein Urtag sinkt, vielleicht barg er andere Möglichkeiten als diese Abendstunde, aber nun ist sie da – ecce homo, – so endet der Mensch.“
In der amerikanischen Literatur singt niemand suggestiver von dieser Menschheitsdämmerung als Don DeLillo, und in seinem Roman „Der Omega-Punkt“ beschwört er ihre letzte Phase: einen „Sprung aus unserer Biologie hinaus. Müssen wir für immer menschlich bleiben? Das Bewusstsein hat sich erschöpft. Zurück zu anorganischer Materie, na los. Das wollen wir. Wir wollen Steine auf dem Feld sein.“
Was für eine Müdigkeit spricht aus solchen Sätzen, die eher mit einer süßen Verlockung spielen als mit einem apokalyptischen Schrecken – aber vielleicht muss man das auch ganz nüchtern sehen. Der Omega-Punkt, den DeLillo mit einem Begriff des jesuitischen Theologen, Philosophen, Geologen und Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin anvisiert, ist schlicht ein End- und Jenseitspunkt von Ort und Zeit, das unausweichliche Telos einer Evolution, das man nur in Zweifel ziehen kann, wenn man, wie viele Evolutionstheoretiker, teleologischem Denken grundsätzlich misstraut. DeLillo geht es indes weniger um Naturgeschichtsschreibung als um „eine zutiefst mystische Verschiebung, die Dasein in einen Stein verlagert“, um den Abschied von einer selbstzerstörerischen Zivilisation, die sich über sich selbst Rechenschaft ablegt: „Wir sind völlig ausgespielt.“
Das hat auch seine Prosa ausgehöhlt. Don DeLillo, 1936 in der New Yorker Bronx geboren, war selbst in seinen geschichtsträchtigsten Büchern, dem Kennedy-Roman „Libra: Sieben Sekunden“ oder dem Jahrhundertpanorama „Unterwelt“ nie ein realistischer Erzähler, sondern ein Montagekünstler, der Medien, Kino, Malerei und Americana in unheimliche Zusammenhänge brachte. „Der Omega-Punkt“ nun, so schmal wie viele seiner Prosabände in den letzten Jahren, ist demgegenüber nur noch das Skelett einer Fiktion: eine Mischung aus Science-Fiction und kulturkritischem Pamphlet – und als solche eher von Stimmungen als von Gedanken beherrscht.
Der Roman, eigentlich eine Novelle, hat die Form eines Triptychons. Eingefasst von zwei Teilen, die im Museum of Modern Art spielen und Douglas Gordons Filminstallation „24 Hour Psycho“ würdigen, eine unerträglich zerdehnte Aufführung von Alfred Hitchcocks Thriller „Psycho“, steht im Mittelpunkt der Strategieplaner und Militäranalytiker Richard Elster. Der 73-Jährige, „ein Gelehrter von hohem Ansehen, aber ohne Regierungserfahrung“, der das Pentagon beraten hat, lebt „irgendwo südlich von Nirgendwo, in der Sonora-Wüste, vielleicht war es auch die Mojave-Wüste oder eine ganz andere Wüste“. Dort besucht ihn der Ich-Erzähler, ein nicht mal halb so alter Filmemacher namens Jim Finley, um ihn vor einer nackten Wand zu interviewen. Finley, der Ich-Erzähler dieses Mittelteils, hat bisher nur einen 57-minütigen Film gedreht, beziehungsweise die „Idee zu einem Film“, einen wilden Zusammenschnitt von Jerry-Lewis-Momenten aus dem Archiv, der allerdings „genauso gut einhundertsiebenundfünfzig Minuten“ oder „vier Stunden, sechs Stunden“ hätte dauern können.
Unzuverlässigkeit des Ortes, Kontingenz der Details: DeLillos Roman ist voller Unschärfen und Ungewissheiten, deren größte das spurlose Verschwinden von Elsters Tochter Jesse ist, von der sich Finley erotisch angezogen fühlt – ein Rätsel, das wie in Michelangelo Antonionis Film „L’avventura“ ungelöst bleibt. DeLillo betreibt eine Verdichtung von Vagheiten, die zugleich auf die politische und technologische Wirklichkeit Amerikas zielen. In dem Maße, in dem der Gedichte lesende Elster für Stärke plädiert („Ich will immer noch Krieg. Eine Großmacht muss handeln.“) und von Haiku-Operationen „in drei Zeilen“ träumt, macht er sich über die damit verbundenen Opfer keine Illusionen: „Eine Regierung ist ein kriminelles Unterfangen.“ Er sieht die Folterkammern des Geheimdiensts, und er sieht, wie lügnerische Slogans sich der Wirklichkeit bemächtigen.
Bei aller Wüstenhitze, die dieses Buch entfacht, bringt der Abstraktionsgrad dieser Prosa eine ungeheure Kälte mit sich. „Der Omega-Punkt“ ist, wie so oft bei DeLillo, das Zeugnis eines Kampfes von Bild gegen Wort und von Realität gegen Hyperrealität. Inspiriert von Douglas Gordons Langsamkeitsexzessen hofft dieses Erzählen, den Dingen selbst noch ein letztes Mal gerecht zu werden, bevor es an sich selbst verendet. Das geht, und auch das ist man von DeLillo gewohnt, nicht ab ohne überspanntes Pathos („Jeder verlorene Augenblick ist das Leben“), ohne wacklige Bilder („kleine matte Kleckse meditativer Panik“) und völligen Nonsense (ein „Phänomen, das sich in seine sedierten Teile zurückzieht“), der in der deutschen Übersetzung oft als erkennbar englisches Relikt herumsteht.
Bleiben die Steine. Nachfahren jener Sedimente, die Novalis in den „Hymnen an die Nacht“ mit romantischem Überschwang wachküssen wollte. Gefährten der ge- und bedichteten „Steine“ von Roger Caillois und Yves Bonnefoy, lauter lichtschluckende Elemente, die Charles Simic in seinem Prosagedichtband „The World Doesn''t End“ mit der unvergesslichen Formulierung bedachte: „The stone is a mirror which works poorly. Your dimness oder its dimness, who''s to say?“ – Der Stein ist ein schlecht funktionierender Spiegel. Deine Düsterkeit oder seine Düsterkeit, wer will das sagen?
„Das Rätsel“, heißt es bei DeLillo, „hatte seine Wahrheit, umso tiefer, als es gestaltlos war, und seine flüchtige Bedeutung ersparte Elster alle möglichen expliziten Details, die einem ansonsten einfallen würden.“ Als poetologisches Bekenntnis ist das eine raunende Kapitulation. Als Ahnung davon, dass es zwischen Himmel und Erde Morphologien gibt, die keine Einbildungskraft fassen kann, ist es ein notwendiges Eingeständnis. „Der Omega-Punkt“ hat etwas von beidem.
Don DeLillo:
Der Omega-Punkt.
Roman. Aus dem
Amerikanischen
von Frank Heibert.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
112 Seiten, 16,95 €.
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