100 Jahre Novemberrevolution: Die Republik behauptet sich
Die deutsche Revolution im November 1918 verlief ohne Plan. Und doch führte sie zu den Errungenschaften der modernen Demokratie.
Walter Rathenau nannte die Ereignisse eine „Revolution aus Versehen“. Sie sei „kein Produkt des Willens, sondern ein Ergebnis des Widerwillens“ gewesen: „Es gab nicht einmal eine revolutionäre Sehnsucht.“
So zitiert Gerd Krumeich den späteren Reichsaußenminister in seinem Buch „Die unbewältigte Niederlage“, eine der herausragenden Veröffentlichungen zum Jubiläum der Deutschen Revolution. Der Düsseldorfer Historiker unternimmt den Versuch, die Geschichte der Weimarer Republik nicht von ihrem Ende der Machtergreifung Hitlers her zu erzählen, sondern von ihrem Anfang unter dem furchtbaren Eindruck des verlorenen Krieges. Krumeich versucht „zu zeigen, dass es tatsächlich eine Art kollektives Trauma gegeben hat, das die Republik beherrschte“.
Das Scharnier zwischen Kriegsende und Republik bildet die Revolution. Sie ist seit jeher schlecht beleumundet. Hitler hasste die „November-Verbrecher“. Auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fand sich kaum ein Verteidiger von 1918. In der DDR ohnehin nicht, die die alte Propaganda der KPD aufnahm und die Sozialdemokraten des „Verrats“ an der Revolution bezichtigte; und in der jungen Bundesrepublik auch nur halb, insofern es damals gelungen sei, die drohende bolschewistische Revolution abzuwenden. Erst mit der 68er-Bewegung erwachte im Westen ein vorübergehendes Interesse an der Rätebewegung. Für die Revolutionäre von 1918, die sich nach Lenins bekanntem Diktum erst eine Bahnsteigkarte kaufen, bevor sie den Bahnhof stürmen, blieb insgesamt nur Verachtung übrig.
Zusammenhang zwischen Niederlage, Revolution und Republik
Damit wollen sowohl Gerd Krumeich als auch das bucherprobte Journalistenduo Sven Felix Kellerhoff und Lars-Broder Keil mit „Lob der Revolution. Die Geburt der deutschen Demokratie“ aufräumen, dazu der in Dublin lehrende Historiker einer jüngeren Generation, Robert Gerwarth. Er nennt sein Buch, mit einem Zitat von Theodor Wolff, „Die größte aller Revolutionen“ – weil, wie der legendäre Chefredakteur am 10. November 1918 schrieb, „niemals eine so fest gebaute, mit soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen wurde“. Es ist dies der Tenor des Buches: das von Sympathie getragene Erstaunen darüber, dass auf das Chaos der an der Peripherie, nicht aber in der Hauptstadt ausgebrochenen Aufstände und das Nicht-Vorliegen eines irgendwie gearteten Planes zu Umsturz und Machtübertragung doch ein neues Staatswesen, die Weimarer Republik, entstand.
Der Zusammenhang zwischen Niederlage, Revolution und Republik steht im Mittelpunkt von Gerwarths Studie. Es geht um die die Weimarer Republik belastende und am Ende erdrückende Dolchstoß-Legende. Ähnlich schreibt Krumeich, „Was von Anfang an strittig war und im Laufe der folgenden Jahre zum Krebsgeschwür der jungen Republik mutieren sollte, war die Frage, wie es denn überhaupt zu dieser Niederlage mit so schrecklichen Konsequenzen hatte kommen können.“
Bereits im August 1919, also kurz nach Unterzeichnung des Versailler Vertrages, ließ die Regierung Scheidemann die Akten zur Kriegsentstehung veröffentlichen, versehen mit einer deutlichen Schuldzuweisung an die Oberste Heeresleitung (OHL), die 1918 „auf einen sofortigen Waffenstillstand gedrängt“ habe. Das wird von Ludendorff heftig zurückgewiesen. Darin, so Krumeich, „wird das Kernproblem der Dolchstoßagitation sehr gut fassbar, nämlich die immer wieder heiß diskutierte Frage, ob und wie lange das Heer noch hätte durchhalten können, wenn nicht die Revolution gekommen wäre. Und ob Deutschland nicht viel bessere Friedensbedingungen hätte erhalten können, wenn man nicht wegen der Revolution fast bedingungslos hätte kapitulieren müssen.“
Die Revolution war die Geburt der Demokratie in Deutschland
Die Frage, ob es eine Alternative zum Waffenstillstand vom 11. November 1918 hätte geben können und unter welchen Bedingungen, muss Krumeich so offen lassen wie je zuvor. Der Aufruf des Reichskanzlers Friedrich Ebert an die heimkehrenden Soldaten jedenfalls zielt auf den entscheidenden Punkt: „Erst als die Übermacht der Gegner an Menschen und Material immer drückender wurde, haben wir den Kampf aufgegeben. Und gerade Eurem Heldenmute gegenüber war es Pflicht, nicht noch zwecklose Opfer von Euch zu fordern.“ Was jedenfalls blieb, war das „Weltkriegstrauma“, die – so Krumeich – „kollektive Verbitterung“. Auch Gerwarth sieht das bleibende Legitimationsproblem der Republik: „Anders als in den Siegerstaaten des Ersten Weltkriegs waren die vielen Opfer, die man gebracht hatte, nach dem verlorenen Krieg nicht zu rechtfertigen.“
Den eigentlichen Verlauf der Revolution zeichnen in allen farbigen Details Keil und Kellerhoff. Sie können sich auf eine reiche Quellenlage von Protokollen, Briefen, Tagebüchern und Zeitungsartikeln stützen. Am Ende urteilen sie, man könne „die Revolution 1918/19 also nicht als misslungen, stecken geblieben oder unvollendet bezeichnen. Im Gegenteil: Sie ist noch dazu in einer denkbar schwierigen politischen Situation, trotz insgesamt mehrerer Tausend Opfer bei Straßenkämpfen, die Geburt der Demokratie in Deutschland. Dieser Sieg des Fortschritts verdient es, gewürdigt zu werden.“ Das tut auch Gerwarth, wenn er „die Errungenschaften dieser wohl einzigen erfolgreichen Revolution in einem hochindustriellen Staat vor 1989 durchaus beachtlich“ nennt: „Innerhalb kurzer Zeit wurde Deutschland auf ungewöhnlich friedliche Weise von einer konstitutionellen Monarchie mit begrenzter politischer Teilhabe des Parlaments zur wohl fortschrittlichsten Republik der Zeit.“
Das preußische Dreiklassenwahlrecht, auf dessen Erhaltung insbesondere die ostelbischen Junker bestanden, verschwand augenblicklich. Frauen erhielten das aktive und passive Wahlrecht; eine Errungenschaft, die die Demokratien Westeuropas erst Jahre und Jahrzehnte später verbuchten. Schließlich wurde mit dem Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918 – nur sechs Tage nach der Abdankung des Kaisers! – der Achtstundentag bei vollem Lohnausgleich eingeführt, wurden die Gewerkschaften als Tarifpartner anerkannt und Arbeiterausschüsse in Betrieben ab 50 Beschäftigten eingeführt.
Keine Antwort auf die Kriegsniederlage
All das ereignete sich Wochen, bevor Anfang 1919 mit dem „Spartakus-Aufstand“ doch noch Straßenkämpfe einsetzten, die jedoch den Prozess der Demokratisierung – in Weimar trat am 6. Februar die Nationalversammlung zusammen – nicht aufhalten oder auch nur graduell verändern konnten. Ebert, so Gerwarth, war geradezu paralysiert von seiner Furcht vor den „Roten“: Er „wollte mit allen Mitteln vermeiden, dass sich die Ereignisse von Petrograd in Berlin wiederholten“. An der verheerenden Wirkung des selbsternannten „Bluthundes“ Gustav Noske von der MSPD, der den Generalstreik vom März 1919 mit dem Befehl, jeden, der „mit der Waffe in der Hand, gegen die Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, (...) sofort zu erschießen“, lässt Gerwarth keinen Zweifel. Doch weil er hinausblickt bis zur Stabilisierung der Republik, kann er ein eindrucksvoll positives Fazit ziehen: „Am Ende des Jahres 1923 ließ sich schwer bestreiten, dass sich die Republik unter widrigsten Umständen behauptet hatte“, urteilt er. „Von einer ,gescheiterten’ oder auch nur ,halbherzigen’ Revolution zu sprechen, erscheint aus der Perspektive am Ende dieses Jahres unangemessen.“
Die Weimarer Republik erwies sich „unter den nach 1918 neu geschaffenen parlamentarischen Demokratien (...) als eine derjenigen, die gegen die autoritären Strömungen am längsten standhielt.“ Die vergleichende Perspektive ist lehrreich: „Allein zwischen 1917 und 1920 kam es in Europa zu 27 gewaltsamen Machtwechseln, viele davon begleitet von latenten oder offenen Bürgerkriegen.“ Bis 1923 „starben bei bewaffneten Konflikten im Nachkriegseuropa über vier Millionen Menschen“ – mehr als die Weltkriegstoten der alliierten Mächte zusammen.
Doch bleibt ebenso gültig, was Krumeich feststellt: „Das Menetekel der Weimarer Republik war und blieb, dass sie nicht fähig war, eine Antwort auf die Niederlage zu finden, die den Hass und die Zerrissenheit zumindest teilweise hätte überwinden können.“ Das gelang erst, auf freilich ganz andere, zunehmend terroristische Weise, dem NS-Regime und seiner erzwungenen „Volksgemeinschaft“.
Weitere Fotos von Willy Römer sind ab dem 9. November in der Ausstellung "Berlin in der Revolution 1918/19" im Museum für Fotografie zu sehen.
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