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Sie möchte niemals bitter werden. Die Kriegsbilder der frühen Kindheit haben Christa Kozik geprägt.
© Ottmar Winter PNN

Autorin Christa Kozik im Porträt: Die Realfantastikerin

Viele Kinderbücher und Drehbücher berühmter Defa-Filme stammen von Christa Kozik. Ein Besuch bei der Autorin in Babelsberg.

Als Kind hatte Christa Kozik immer wieder den gleichen Traum. Wenn die Verletzten sie wieder verfolgten, nach ihr greifen wollten, versteckte sie sich in einer riesigen Pappkiste.

Ein Karton der Marke Persil. Deckel drauf, und Schluss. „Da war ich gerettet.“ Der Krieg kam ihr damals vor wie ein böses Spiel der Erwachsenen. Sie war überzeugt: Irgendwann würden die Toten wieder aufstehen.

Die Toten aber blieben tot. Darunter Koziks Vater. Er, ein Pazifist, war von der Gestapo verhaftet und später als Hilfsarbeiter bei der Bahn von einem Zug erfasst worden. Dennoch, der Krieg ging vorbei.

Die Sonne kam wieder: Ein frühes Foto zeigt Christa Kozik in der Maisonne des Jahres 1945 lachend in einer Zinkbadewanne. Auf dem Hof hatten nur kurze Zeit zuvor Kriegsversehrte im Stroh gelegen.

Am 1. Januar wird Christa Kozik achtzig. An die blutigen Wunden der Soldaten erinnert sie sich noch heute. Auch an die Flucht der Familie aus dem schlesischen Liegnitz ins Thüringische, wo sie aufwuchs. Damals war sie fünf. Sie erinnert sich an die Bombenflieger, die Brände, die Schreie. An den Schnee, die Temperaturen von minus zwanzig Grad. Am Bahnhof Frankfurt (Oder) sieht sie Bretter, die auf einen Güterzug geworfen werden. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt sie: keine Bretter. Erfrorene Menschen.

Melancholiker und Pragmatiker

Wenn man die Schriftstellerin Christa Kozik verstehen will, hilft es, diese Bilder zu kennen. Wer sie heute im Babelsberger Zuhause besucht, wird zunächst von einer Friedenstaube an der Tür begrüßt. Die Kriegsbilder begleiteten Christa Kozik, die Kinderbuchautorin, Defa-Szenaristin, Lyrikerin, Nationalpreisträgerin der DDR, ein Leben lang.

Legten ihre Schatten noch auf die vermeintlich leichtfüßigsten Texte, die für Kinder. Erwachsene trinken, wenn sie schwermütig sind, heißt es in „Moritz in der Litfasssäule“. „Aber was machen wir Kinder, wenn wir Weltschmerz haben?“

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Koziks Kinderfiguren können Melancholiker sein, aber sie sind auch Pragmatiker. Haben die forsche Klarheit, den Freiheitsdrang der Figuren jener anderen, verehrten Kollegin: Astrid Lindgren. Ein Foto, das Lindgren und Kozik in den 1980er Jahren in Stockholm zeigt, hängt über Koziks Schreibtisch in ihrem Babelsberger Arbeitszimmer.

Unweit auch ein anderer Verehrter: Friedrich Hölderlin. Und einen dritten Fixstern nennt Kozik. Peter Hacks, den Autor von „Flo, der Flummi und das Schnack“. Lindgren, Hacks und Hölderlin: Bei Christa Kozik geht das sehr gut zusammen.

Saufende Katzen, sprechende Ratten

„Moritz in der Litfasssäule“ wird 1983 zu einem Defa-Film. Knapp vierzig Jahre nach den Träumen vom Persil-Karton erzählt Kozik hier von einem Jungen, der sich auch in ein Versteck rettet. Moritz Zack, neun Jahre alt, flüchtet vor einer Welt, die ihm zu schnell ist. Morgens wird er in die Schule gehetzt, in der Schule durch Zahlenreihen und genormten Kunstunterricht („Ihr sollt die Natur so malen, wie sie ist!“), nach der Schule zum Einkaufen.

Moritz wirft das Mathe-Heft mit der 5 (schlimmer ging es nicht in der DDR) in den Bach und schleicht sich nachts ins Exil: die Litfasssäule. Mitten auf dem Marktplatz. Hier, im Auge des kleinstädtischen Orkans, denkt er nach. Zum Beispiel über das „dritte Auge“ – jenes, das dem Leben Buntheit verleiht. Die Fantasie. Und hier lässt er sich von einer biersaufenden Katze das Leben erklären. Auf dem Abschiedsbrief an die Eltern steht der wunderbare, traurige Bartleby-Satz: „Es hat mir nicht mehr gefallen“.

Auch Koziks andere Arbeiten, „Ein Schneemann für Afrika“ (1977) und „Gritta von Rattenzuhausbeiuns“ (1985), zeigen eine Kinderwelt, die Schmerz und Verlust kennt, aber auch Magie. Saufende Katzen, sprechende Ratten, Engel mit schwarzem Haar und goldenem Schnurrbart. „Realfantastisch“, nennt Kozik ihren Ansatz. Mit dem Fantasie-Begriff von Marx hat sie sich akademisch beschäftigt, das Leben hat ihr beigebracht, wie Kinder reden. 1963 und 1966 kommen ihre beiden Söhne zur Welt.

Ihre Beschäftigung mit Hölderlin begann mit 16

Ein Kozik-Film wurde ein regelrechter Kassenschlager: „Sieben Sommersprossen“ (1978) in der Regie von Herrmann Zschoche erreichte in der DDR ein Millionenpublikum. Ein Film über den Drill in der Erziehung, die Wut und Trauer von Jugendlichen gegenüber einer Welt, die sie als verlogen empfinden. Und über die Liebe. Die Nacktheit der jugendlichen Darsteller: ein Aufreger damals.

Koziks heute bekannteste Arbeit ist das Kind einer frühen Liebe: Der Hölderlin-Film „Hälfte des Lebens“ (1985), Regie Herrmann Zschoche. Die Beschäftigung mit Hölderlin begann, als sie 16 war.

Ulrich Mühe und Jenny Grölmann in „Hälfte des Lebens“.
Ulrich Mühe und Jenny Grölmann in „Hälfte des Lebens“.
© DEFA Stiftung/Jörg Erkens

Da fiel ihr in einem Antiquariat ein Band mit seinen Gedichten in die Hand. Und Kozik schrieb früh auch selbst: Als sie 1963 beim Potsdamer Lyrik-Abend vorträgt, verdient sie sich den Titel „beste Nachwuchsdichterin des Bezirkes“ und wird mit einer Delegation nach Berlin belohnt. Darf dort mit Sarah Kirsch und Wolf Biermann lesen.

Wenn „Hälfte des Lebens“ noch heute besticht, dann wegen Ulrich Mühe und Jenny Gröllmann in den Hauptrollen - aber auch wegen des Drehbuchs, das die Sprache Hölderlins auf kunstvolle Weise mit dem einzig ebenbürtigen Element verwebt: Schweigen. Eine Liebe, die sich nicht zu Tode erklärt, die natürlich nicht ohne Pathos ist. Aber völlig ohne Kitsch.

2014 erhält Christa Kozik zusammen mit Herrmann Zschoche von dem Verein „Hölderlin-Nürtingen“ den Hölderlinring: eine seltene Würdigung in der heutigen Zeit. Kozik nennt sie „Neuzeit“. 30 Jahre währt diese Neuzeit nun. Aber die Verletzungen, die sie mit sich brachte, scheinen ebenso wenig verblichen wie die Erinnerungen der Fünfjährigen.

Später kommt der Zusammenbrach

Am 1. Januar 1991 erhält Christa Kozik die Kündigung von der Defa, nach 15 Jahren als angestellte Filmautorin. Es ist ihr 50. Geburtstag. Sie tourt danach mit ihren Büchern durch Ost und West, bis in die Schweiz.

Im Jahr 2000 bricht sie zusammen. „Durch die Umstände“, wie sie sagt. „Durch das, was man alles verloren hat.“ Die Arbeit war weg, Koziks verlegerisches Zuhause, der Kinderbuchverlag Berlin, abgewickelt. Ihre Bücher: „auf dem Müll“. Die Versuche, die Rechte an eigenen Werken zurückzuholen, neue Verlage für sich zu gewinnen: demütigend.

Seit 1997 hat sie keinen Film mehr gemacht, dafür zusammen mit dem 2016 verstorbenen Rolf Losansky Kindertheater. Und sie schreibt. „Ich möchte nie verbittert sein“, sagt sie, es klingt nicht nach einer Phrase.

Kürzlich ist wieder ein Kinderbuch von einem großen Verlag abgelehnt worden. Eine Erzählung, in der es um Armut geht, um Arbeitslosigkeit, Alkohol. „Es war ihnen zu krass.“ Darüber kann Christa Kozik lachen.

Lena Schneider

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