Interview mit Andrea Palent: „Die Musik hält der Politik den Spiegel vor“
Morgen beginnen Andrea Palents finale Musikfestspiele – Anlass für ein Gespräch über Europa als Mythos und Chance.
Frau Palent, die am Freitag beginnenden Musikfestspiele Potsdam Sanssouci sind die letzten, die Ihre Handschrift tragen. Sie wenden sich dem politisch sehr aufgeheizten Thema Europa zu. Warum?
Als vor zwei Jahren klar war, dass 2018 meine letzten Potsdamer Festspiele sein werden, wurde gerade das große europäische Kulturerbejahr 2018 Sharing Heritage ausgerufen. Damals dachte ich: Das ist genau das richtige Thema für mich und mein künstlerisches Finale in Potsdam. In meinem ersten Festspieljahr 1991 war Potsdam im Umbruch. Die Kulturlandschaft Berlin-Potsdam, die ja zusammengehört, war gespalten. Mit der Wende gab es nun diese unglaubliche Möglichkeit, sie wieder zusammenzubringen. Da hatte ich sofort die Vision, die Musikfestspiele so zu profilieren, wie sie heute sind, den Geist des Ortes von Potsdam und seinen Schlössern und Gärten mit der Natur und der Musik zu verbinden. Ich konnte meinen Beitrag leisten, wie viele aus meiner Generation, dass Potsdam von einer doch eher provinziellen Stadt am Rande Berlins – wir mussten ja vor der Wende mit der S-Bahn sehr weit fahren, um überhaupt nach Berlin-Ost zu kommen – zu einer Landeshauptstadt von europäischem Format geworden ist.
Wer gab Ihnen diese Chance?
1990 gab es eine Ausschreibung, die Parkfestspiele neu zu gestalten. Dafür schrieb ich ein Konzept. Ich arbeitete damals an der Uni als Musikwissenschaftlerin und kannte die Musik- und Kulturgeschichte Potsdams sehr gut. Viele Superstars, wie zum Beispiel Justus Frantz, wollten das Festival leiten. Aber die damalige Kulturdezernentin Saskia Hüneke und Ministerpräsident Manfred Stolpe gaben mir den Bonus. Das ist aus heutiger Sicht nicht mehr vorstellbar. Hatte ich doch von Betriebswirtschaft, doppelter Buchführung oder GmbH-Geschäftsführung keine Ahnung. Doch sie haben mich von der Uni befreit und gesagt: Nun mach mal. So war das damals. Diese Aufbruchstimmung. Letztlich haben mir beide vertraut, dass ich es mit meinem kleinen Potsdamer Team schaffe.
Und heute schauen Sie auf ein Festival von internationaler Größe.
Das ist einer der schönsten Momente, auf die ich zurückblicke. Wir Potsdamer bekamen die Chance, unsere Visionen selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Dafür und vor allem für die großartige Zusammenarbeit über Jahrzehnte mit den Direktoren und Mitarbeitern der Stiftung Schlösser und Gärten bin ich sehr dankbar. Heute ist das Festival wie auch Potsdam wieder mitten im Herzen von Europa – wie zur Zeit Friedrich des Großen und seiner Vorgänger: mit Toleranz, Einwanderung und mit unglaublich tollen Künstlern, völlig grenzenlos.
Nun ist Europa ja gerade dabei, auch wieder Zäune zu errichten.
Wir halten die Musik dagegen, die immer grenzenlos agiert hat. Wenn man zum Beispiel von der Wiener Klassik ausgeht: Die wurde zwar in Wien kreiert, aber sie ist ein europäischer Stil geworden. Und egal ob in Spanien, Italien oder Deutschland, sie ist überall zu Hause. Es gibt viele Beispiele in unserem Programm, die diese Grenzenlosigkeit der Musik Europas zeigen. Die Musik ist viel weiter als die Politik und führt uns den Spiegel vor Augen, dass Europa trotz Konflikte schon immer ein offener Kunst- und Kulturraum war.
Keine nationalen Bestrebungen?
Doch, nationale Tendenzen gab und gibt es immer wieder: einige Beispiele sind Campras „L’Europe galante“, Telemanns „Les Nations“ oder die 9. Sinfonie Beethovens. Aber das ist nur ein Strang. Parallel gab es die Reisenden, die Kastraten und Primadonnen, Virtuosen wie Chopin, Mozart, Liszt, die mit ihrem unglaublichen künstlerischen Potential überall in Europa begeisterten.
Inwiefern beschwören Sie auch den Mythos Europa?
Dieser Mythos ist sehr spannend. Ich habe mit meinem Dramaturgen Thomas Höft lange nach den wirklichen Quellen von Europa in Potsdam gesucht. Und da sind wir auf vier Gemälde und eine Porzellanskulptur gestoßen, die es in der Bildergalerie und im Marmorpalais zur „Europa“ gibt. Der Mythos erzählt, dass die asiatische Prinzessin Europa von Jupiter geraubt und durchs Meer nach Kreta entführt worden ist. Ob sie gezwungen oder freiwillig mitgegangen ist, lassen die Gemälde offen. Wir haben eine einaktige Oper gefunden, die sich, so wie die Gemälde, mit dieser Mythologie auseinandersetzt: Alessandro Melanis „L’Europa“. In unserer szenischen Fassung in der Ovidgalerie hinterfragen wir diese Geschichte: Ließ sich die schöne Asiatin, die von einem Mann gefangen worden war, wirklich brechen? Wir werden dieses Thema ins Heute führen. Dieser Mythos ist in der Malerei und Literatur viel intensiver verarbeitet worden als in der Musik, und insofern ist es sehr schön, dass wir nun diese Oper produzieren.
Kann Europa nicht auch heute wieder baden gehen?
Es gab schon 1849 den Satz von Victor Hugo: „Wir errichten die Vereinigten Staaten von Europa ... wir werden den Eroberungsgeist in Entdeckergeist umwandeln ... wir werden ein Vaterland ohne Grenzen haben.“ Diese Hoffnung ist bis heute politisch nicht geklärt. Aber mein Anliegen ist es, zu zeigen, dass Europa in der Musik schon vollendet ist.
Aber es gab immer wieder Kriege.
Ja, aber nicht musikalisch. Musik ist nicht auf Länder reduziert, nicht auf Nationalstile. Nehmen wir die Wikinger als Wandervolk oder die Basken: Von ihnen gingen grenzübergreifende Musikentwicklungen aus, die wir auch im Festival zeigen werden. Gerade wir als neue Bundesländer haben die Wende als eine friedliche Revolution hinter uns und wollen in den Spiegel Europa positiv schauen.
Glauben Sie, dass sich Politiker wirklich den Spiegel vorhalten lassen?
Wenn wir als Bürger nicht aktiv werden und den gemeinschaftlichen Gedanken immer wieder lebendig werden lassen, wäre das die schlechteste Antwort. Wenn wir reisen, schätzen wir das Essen, die Kunst und Kultur. Wenn man diese Kraft der Künstler, die sich über vier Jahrhunderte eine gemeinsame Musiksprache formten, vor Augen hält, ist das unser kleiner Beitrag.
Sie kommen aus Ostdeutschland und sind mit Europa sehr begrenzt aufgewachsen. Halten Sie manchmal noch inne und wundern sich über die heutigen Möglichkeiten?
Diese Momente habe ich sehr oft, gerade weil wir die Grenzen noch kennengelernt, im Sozialismus und Kapitalismus gearbeitet haben. Ich bin weder damals noch heute lenkbar gewesen. Und dennoch sind wir heute viel freier, können den Geist größer aufmachen. Gleich nach der Wende baute ich Kontakte nach Versailles auf, weil ich wusste, dass Potsdam den europäischen Kontext braucht. Dieser Aufbau von Kontakten, von Sprache – wir konnten ja nur Russisch –, dieses Globale ist immer wieder etwas Besonderes für mich.
Wie wichtig sind persönliche Kontakte?
Es gibt Künstler, zu denen ich in den 28 Jahren eine wirkliche freundschaftliche Beziehung entwickelt habe. Und die bat ich nun alle, bei meinen Abschlussfestspielen zum Thema Europa Programme zu gestalten. Wie Christina Pluhar. Sie hatte im Jahr 2000 bei uns im Nikolaisaal ihr Deutschland-Debüt. Jetzt ist sie auch hierzulande ein gefeierter Star. Oder Fabio Biondi, der mit seinen Barockmigranten die Musikfestspiele morgen eröffnet, oder Christophe Rousset, ein französischer Cembalist, so alt wie ich, mit dem ich die ganzen Jahrzehnte zusammen arbeitete: Sie alle entwickelten für mich spezielle Europa-Programme.
Sie sind jetzt 61 Jahre alt. Wie hält man ein Festival jung?
Durch Ideen. Davon habe ich noch genug. Aber oft fehlt die Zeit, sie durchzusetzen. Und Muße und Kunst gehören nun mal zusammen. Ich werde jetzt oft gefragt, wie können Sie nach 28 Jahren Musikfestspiele überhaupt ohne weiterleben? Aber das ist ja die große Freude, die ich habe, dass ich auch mal wieder Zeit für andere Dinge bekomme. Gerade jetzt, da ich mich noch stark fühle. Es sind die 28. Musikfestspiele Potsdam Sanssouci und meine letzten Festspiele für Potsdam. Ich schließe aber nicht aus, dass ich irgendwann mal wieder woanders an einem Festival arbeite. Jetzt möchte ich entschleunigen und Luft holen.
Und wo erholen Sie sich nach dem Festival?
Mein Mann und ich fahren erstmal Rad an der Mosel: mit Start in Frankreich. Und für die Familie ist auch mehr Zeit. Die ist sehr europäisch. Wir haben zweisprachig aufwachsende Enkelkinder, mehrere europäische Schwiegersöhne. Unser Leben ist europäisch geworden. Und das ist eine große Bereicherung, ein Geschenk.
Das Gespräch führte Heidi Jäger.
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Die Musikfestspiele Sanssouci dauern vom 8. bis 24. Juni.
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Zur Person: Andrea Palent, geboren 1957 in Leipzig, studierte in Halle Musikwissenschaft. Seit 1991 ist sie Geschäftsführerin und Künstlerische Leiterin der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci.
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