Literatur: Die allerletzte Kommunistin
In "Irene Binz. Befragung" lässt der Politpoet und West-Ost-Wanderer Ronald M. Schernikau seine Mutter erzählen.
„Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen“, sagte Ronald M. Schernikau im März 1990 in seiner Rede auf dem Kongress der Schriftsteller der DDR. Schernikau selbst war kurz zuvor in die DDR übergesiedelt, am 1. September 1989 wurde der schwule Politpoet, der zuvor bereits mit Ausnahmegenehmigung am Leipziger Literaturinstitut studiert hatte, als letzter Westdeutscher eingebürgert. 1991 stirbt er an den Folgen von Aids.
Als „letzter Kommunist“ wurde Schernikau zum 20. Wendejubiläum von seinem Wegbegleiter Matthias Frings mit einer großen Biografie gewürdigt. Der Verbrecher Verlag brachte die Textsammlung „Königin im Dreck“ heraus, die auch die Kongressrede dokumentiert. 2010 nun, im 50. Geburtsjahr Schernikaus erscheint mit „Irene Binz. Befragung“ die von ihm verfasste Geschichte seiner Mutter Ellen, die der Liebe wegen die DDR verließ – und anschließend „die Verzweiflung des Westens“ am eigenen Leib erfuhr. Thomas Keck, der auch den „Königin“-Band edierte, hat das literarische Protokoll aus dem Nachlass herausgegeben.
Grundlage des neuen Buchs sind Interviews, die Ronald M. Schernikau 1981 in Hamburg mit seiner Mutter geführt hat. Der auf Hunderten von Schreibmaschinenseiten abgetippte, sorgfältig, manchmal orthografisch eigenwillig in Form gebrachte Text konserviert den vertrauten Ton, die Nähe zwischen Mutter und Sohn, die direkte Ansprache. Nur die Namen sind verändert: Aus Ellen wird Irene, Ronald wird Eugen. „Als du ganz klein warst und du bist hin gefallen, da hab ich immer gesagt: Komm her, ich heb dich auf. – Und dann bist du auf gestanden und zu mir gekommen, und ich hab dich auf den Arm genommen und es war gut.“ Wer das nicht als die allerinnigste und zarteste Musik hören könne, schreibt der Schriftsteller Dietmar Dath in einem emphatischen Vorwort, sei „verflucht“.
Absatz für Absatz entsteht das Bild einer emotionalen, in Liebesdingen manchmal bestürzend arglosen, dabei jedoch starken, patenten, lebensfrohen Frau, Lehrschwester in einem Magdeburger Krankenhaus, überzeugte Kommunistin, FDJ-Vorstand, Parteimitglied. Als Ronalds Vater, der Briefmarkenhändler Thomas, vor der Steuer in den Westen abhaut, geht die schwangere Irene nicht mit: „Ich war doch Genossin.“ Und nach Eugens Geburt dauert es nur ein Jahr, bis die deutsch-deutsche Grenze dicht ist. „Und ich wollte mein Kind in meinem Land haben. Und dieser verdammte Kerl ist im Ausland.“
Irenes Sehnsucht wächst, nach Thomas, nach einer Familie – und irgendwann ist sie so groß, dass Irene nachgibt, die Flucht wagt. Zusammen mit Eugen kommt sie in einem Autokofferraum in den Westen.
Und? Thomas will sie nicht. Manchmal schlafen sie noch zusammen, obwohl Irene weiß, dass er eine Frau hat und zwei Kinder. Er handelt mit Militaria, ein Hakenkreuzbanner hängt im Flur. Irene überlegt, zurückzugehen, zögert. Kaufen lässt sie sich nicht. Alle raten ihr, sie solle sagen, sie sei „aus politischen Gründen“ aus der DDR geflohen. Aber Irene lügt nicht – auch wenn ihr so Hilfsgelder verloren gehen. „Ich bin privat hier“, sagt sie.
Sie findet wieder einen Job im Krankenhaus, doch zu Hause fühlt sie sich im Westen nie. Der Egoismus! Der Materialismus! Der ahnungslose, arrogante Blick auf die „Ostzone“! Das Gemeinschaftsgefühl, das politische Verantwortungsbewusstsein, das Irene bisher kannte, vermisst sie in der neuen Umgebung: „Die jungen Mädchen hatten überhaupt keine Ahnung, wie ihr Staat aufgebaut ist. Die hat das auch gar nicht intressiert.“
Schließlich akzeptiert Irene ihre neue Situation: „Ich bin jetzt Bundesbürger und ich will, dass sich hier was ändert. Und ich bleibe hier.“ Kommunistin aber ist Irene/Ellen bis heute – „die allerletzte“, wie sie in einem aktuellen Interview im Anhang des Buches scherzhaft sagt. Ihr Sohn dagegen hielt es irgendwann nicht mehr aus – und ging. Seine neue, alte Heimat DDR hat es dann nicht mehr lange gegeben.
Ronald M. Schernikau: "Irene Binz. Befragung". Hg. von Thomas Keck. Rotbuch Verlag, Berlin 2010. 224 Seiten, 16,95 €.
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