Kultur: Der Kaiser ging, der Marschall blieb
Als Feldherr schläfrig, als Politiker hellwach: Wolfram Pytas große Biografie über Paul von Hindenburg
Der Name ist Vergangenheit, sein Mythos zerstoben. Paul von Hindenburg, Feldmarschall im Ersten Weltkrieg, Reichspräsident der Weimarer Republik, Wegbereiter Hitlers im fatalen Januar 1933 – das sind die Stichworte, die ihn ins Gedächtnis zurückrufen. Die Person selbst bleibt fremd, ein Unzeitgemäßer schon zu Lebzeiten.
Dabei gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass Hindenburg (1847–1934) wie kein Zweiter die deutsche Geschichte zwischen 1914 und 1933 verklammert, vom Kaiserreich bis zum Hitlerregime. Zwei Jahrzehnte, die, von ihren Enden her gesehen, nur als fatal bezeichnet werden können, als wiederholtes Scheitern, und gerade darin unlösbar verbunden mit dem Namen Hindenburgs.
Keine leichte Aufgabe mithin, eine Biografie des heute durchweg schlecht beleumundeten Militärs und Politikers zu schreiben. Der Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta hat sich ihr in beeindruckender Weise unterzogen. 870 Seiten Text und 240 Seiten Apparat sind das Ergebnis einer umfassenden Forschungsleistung. Pyta verfolgt einen Ansatz, den auf Hindenburg zu beziehen auf den ersten Blick überrascht. Er sieht seinen Protagonisten als Verkörperung der charismatischen Herrschaft, wie sie Max Weber beschrieben hat. Ausgerechnet der stocksteife und phlegmatische Hindenburg, der als „greiser Feldmarschall“ aus vergangener Herrlichkeit herüberragte?
Genau darum, meint Pyta. Hindenburg, so seine bestechende These, konnte seine Macht – zu der er im Übrigen erst mit der Reichspräsidentenwahl von 1925 ein legitimiertes Amt erlangte – quasi aus dem Stand heraus ausüben, weil er die ideale Projektionsfläche der zutiefst erschütterten deutschen Gesellschaft jener beiden Jahrzehnte abgab. Und diese Rolle erstaunlich virtuos einzunehmen verstand. „Hindenburg“, so Pyta, „beteiligt sich intensiv an der gezielten Pflege medial vermittelter Deutungskultur, seine Tätigkeit lässt sich damit als die eines politischen Kulturmanagers erfassen.“
Bekannt und dennoch erklärungsbedürftig ist „der sensationelle Aufstieg Hindenburgs zur nationalen Vaterfigur“. Als „Sieger von Tannenberg“ betritt er Ende August 1914 schlagartig die historische Bühne – ein aus dem Ruhestand zurückgeholter General, der genau jene einzige kurze und siegreiche Schlacht des Ersten Weltkriegs befehligt, wie sie die Bevölkerung an allen Fronten erhoffte. Dennoch „militärisch ohne genuinen Feldherrenehrgeiz“, so Pyta, „konzentrierte er sich von Anfang an auf das Feld der geschichtspolitischen Verwertung der militärischen Aktionen“. Den ostpreußischen Sieg über die zaristische Armee errang in Wahrheit Hindenburgs Alter Ego Erich Ludendorff, mit dem zusammen er ab August 1916 das verhängnisvolle Duo der Obersten Heeresleitung, der faktischen Militärdiktatur des vergehenden Kaiserreiches, bilden sollte.
So weit, so bekannt. Neu und ungemein spannend ist indessen die Darstellung der „symbolpolitischen“ Tätigkeit Hindenburgs. Bald nach dem Sieg in Ostpreußen wurde er zur Verkörperung der „Nervenstärke“, die sich die Deutschen so sehr wünschten. Hindenburg verdrängte in der öffentlichen Wahrnehmung den Kaiser – und sollte ihn, obgleich durch und durch Monarchist, im November 1918 mitleidlos abservieren.
Die befremdliche Lebensweise Hindenburgs als Oberbefehlshaber der Ostfront – die ausgedehnten Jagden, der lange Schlaf, die ausgiebigen Abendessen, vor allem aber das groteske und wohl alle seine zahlreichen Besucher verwundernde Fernbleiben von jeglicher militärischer Operationsplanung – beschädigt Hindenburgs enormes Ansehen mitnichten. Der Feldmarschall, zu dem ihn der Kaiser bald nach Tannenberg befördert hatte, verlegt sich zunehmend auf die Politik – und die Intrige. Reichskanzler Bethmann Hollweg, der letzte Politiker des Reiches, der diese Bezeichnung noch verdient, sollte an Hindenburg scheitern, als er in aller Behutsamkeit darangehen wollte, den gordischen Knoten des Abnutzungskrieges aufzulösen. Streng monarchistisch und konservativ, sperrte sich Hindenburg gegen jeden Anflug von Wahlrechtsreform oder gar Parlamentarisierung. Dass der Marschall, nachdem er den längst machtlos gewordenen Kaiser nach Holland abgeschoben hatte, der einflussreichste Vertreter der Dolchstoßlegende wurde, machte ihn paradoxerweise nur noch unangreifbarer.
Als roten Faden in Hindenburgs Handeln benennt Pyta den ausgeprägten, früh als Zögling einer preußischen Kadettenanstalt erworbenen und in den Bismarck-Kriegen befestigten Nationalismus. „Allein der Kräftigung und Festigung der nationalen Stärke galt sein Trachten“, resümiert der Autor den Ertrag seiner immensen Arbeit. Der erstaunliche Wandel des erzkonservativen Monarchisten zum Nachfolger Friedrich Eberts als Reichspräsident 1925 erklärt sich aus dieser Motivation. Am Ende seiner ersten Amtszeit steht er 1932 geradezu als Vernunftrepublikaner zur Wiederwahl, gestützt von den Parteien der „Weimarer Koalition“, die keinen andere Lösung im Ringen mit den extremistischen Kandidaten Hitler und Thälmann wissen. Doch wenig später traut er allein dem Mann aus Braunau den Ausweg aus der Krise zu, und das hieß für ihn: die Erhaltung und Stärkung der deutschen Nation.
Dass er den von ihm anfangs als „böhmischen Gefreiten“ geschmähten Hitler die Tür zur Reichskanzlei öffnet, erklärt Pyta überzeugend aus der Abnutzung des Hindenburg-Mythos, den der greise Präsident im politischen Alltag erfahren musste. Er suchte sein sorgfältig gefügtes Bild zu erhalten – und sei es durch Machtpreisgabe an die Nazis. Der Einfluss der ostelbisch-reaktionären „Kamarilla“ auf den greisen Hindenburg und dessen verhängnisvolle Entscheidung für Hitler war weit geringer als bislang angenommen.
Hindenburgs Charisma war, anders als das des im Weber’schen Sinne „idealtypischen“ Hitler, kein aktives. Kann man es dann überhaupt so bezeichnen? Doch wohl eher nicht. Hindenburgs einzigartige Stellung beruhte umgekehrt auf den Sehnsüchten einer bürgerlichen Mehrheit, die dieser freilich geschickt zu lenken verstand. Insofern ist Hindenburg das Symbol der ausgebliebenen Modernisierung Deutschlands nach 1918, das Symbol der Republik ohne Republikaner. Dass Hindenburg gleichwohl höchst aktiv Politik betrieb – zumal ab 1930 in der Zeit seiner präsidialen Notverordnungsbefugnisse –, steht dazu nicht im Widerspruch. Nach Pytas monumentalem Werk wird man jedenfalls die Rolle Hindenburgs in der Endphase der Weimarer Republik weit schärfer fassen als bisher.
Im von Hitler wie Hindenburg zielsicher inszenierten „Tag von Potsdam“ wurde jene Kontinuität vom Kaiserreich zum NS-Regime zelebriert, die ein nennenswerter Teil der Deutschen ersehnte. Die Niederlage von 1918 hatte Hindenburg, erstaunlich wendig, von seiner Person fernzuhalten gewusst. Seine Bereitschaft zum Präsidentenamt musste umso mehr als neuerlicher Pflichtakt des Patrioten gelten. Mit seinem politischen Testament von 1934 erteilte er nunmehr Hitler die nationale Weihe: „Mein Kanzler Adolf Hitler und seine Bewegung haben zu dem großen Ziele, das deutsche Volk über alle Standes- und Klassenunterschiede zusammenzuführen, einen entscheidenden Schritt von historischer Tragweite getan.“ Hindenburg verfolgte, was Pyta als „sein Lebensziel, die ,Volksgemeinschaft’“ entschlüsselt. Der Feldmarschall-Präsident war keine Marionette, auch nicht am Ende seines 86-jährigen Lebens, sondern ein Akteur der deutschen Geschichte, auf den sich in fataler Weise die Sehnsüchte einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft richteten.
– Wolfram Pyta:
Hindenburg.
Herrschaft zwischen Hohenzollern und
Hitler. Siedler-Verlag, München 2007. 1117 Seiten, 49,90 Euro.
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