Buch: Der Kaiser, der den Krieg begann
John C. G. Röhl zeichnet im dritten Band seiner monumentalen Biografie ein düsteres Bild von Wilhelm II und seiner Rolle kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
Dreißig Jahre lang dauerte seine Regentschaft, einer ganzen Epoche hat er seinen Namen gegeben: Wilhelm II., Deutscher Kaiser von 1888 bis zur Niederlage seines Reiches im November 1918. Seine Abdankung am 9. November hat er um mehr als zwei Jahrzehnte überlebt, Jahrzehnte, in denen die Wut auf das Ergebnis desjenigen Krieges die deutsche Politik vergiftete, den er angezettelt hatte.
Doch - hat er den Ersten Weltkrieg tatsächlich verursacht? Das ist eine Kernfrage einer jeden Beschäftigung mit Wilhelm II., nicht erst, seit der österreichische Historiker Fritz Fischer 1961 den "Griff nach der Weltmacht" als Leitmotiv der wilhelminischen Politik ausmachte. Immerhin sah Wilhelm sich selbst im Zentrum aller Entscheidungen. So schrieb er 1901 an den britischen König Edward VII., seinen Onkel, "der einzige Lenker & Herr der deutschen Außenpolitik & die Regierung & das Land müssen mir folgen". Insofern mündet die Frage nach der tatsächlichen Machtfülle des Kaisers in die nach der Verantwortung für den Kriegsbeginn 1914. Hatte das "Persönliche Regiment", auf das der Kaiser so verbissen pochte, doch mehr Substanz, als eine über groteske Ausrutscher und Taktlosigkeiten zunehmend fassungslose Öffentlichkeit wahrnahm, oder war er nur der "Schattenkaiser", um mit Hans-Ulrich Wehler zu sprechen?
Der englische Historiker John C. G. Röhl, 1938 geboren und mit beiden Sprachen seiner deutsch-englischen Eltern aufgewachsen, hat jetzt seine drei Jahrzehnte währende Forschungsarbeit an der Biografie Kaiser Wilhelms mit dem dritten Band abgeschlossen. Schon deren Titel "Der Weg in den Abgrund. 1900-1941" enthält das Urteil des Autors. Dabei ist mit dem "Abgrund" das persönliche Schicksal ebenso gemeint wie das des Reiches, wie Röhl auf 1611 Seiten ausführt. Erst recht im holländischen Exil steigerte sich Wilhelm in einen geifernden Antisemitismus hinein, weit vom weichgezeichneten Bild des Holz hackenden Großvaters entfernt. Und das Deutsche Reich rutschte unter der Hypothek des verlorenen Weltkrieges in den nächsten, noch fürchterlicheren Abgrund hinein.
Speerangelweiter Einblick in die Welt des Hofes und der Günstlinge
So sehr Röhl sich bemüht, bis in die feinsten Details hinein die Intrigen und Interventionen Wilhelms aufzudecken - was ihm "dank der bewundernswerten Brief- und Tagebuchkultur der Zeitgenossen Wilhelms" vorzüglich gelingt -, so sehr widerspricht ihm zugleich die Materialfülle. Röhl zitiert seiten-, ja kapitellang aus den Aufzeichnungen des Kaisers und seiner Kamarilla. Was auf der einen Seite ermüdet, fasziniert auf der anderen als sperrangelweiter Einblick in die Welt des Hofes und der Günstlinge, einschließlich der von Wilhelms Gnaden installierten Reichskanzler. Auf sie ist Röhl nicht gut zu sprechen - weder auf Bernhard von Bülow, der von 1900 bis 1909 amtiert, noch auf Theobald von Bethmann Hollweg, der nachfolgend bis 1917 die Geschäfte führt. Bülow ist der schmeichlerische Intrigant, der Wilhelm ins Messer der "Daily Telegraph"-Affäre laufen lässt, und Bethmann Hollweg untergräbt die Vermittlungsbemühungen des Kaisers im Juli 1914. Wie dilettantisch diese auch gewesen sein mögen, zeigen sie doch, dass Wilhelm zumindest auf der Ebene dynastischen Denkens, das ihm als Lieblingsenkel Kaiser Wilhelms I. von klein auf vertraut war, die Gefahr eines europaweiten Krieges erkannte. Den Untergang des russischen Zarenhauses, an der Spitze sein Vetter Nikolaus II., sah er ebenso voraus wie den Einsturz der morschen Donaumonarchie.
Gerade die "Nibelungentreue" zu Habsburg war ein entscheidender Fehler der deutschen Politik, ermutigte sie doch die Doppelmonarchie, in Serbien ohne Rücksicht auf Russland zu intervenieren. Im Juli 1914 vollendete sich - dies allerdings ohne Wilhelms Zutun - die antirussische Politik: "Der Kanzler und die Wilhelmstraße", so Röhl, "führten ihr ausgeklügeltes Hasardspiel mit dem Ziel, Russland den Schwarzen Peter zuzuschieben, bis zum bitteren Ende fort."
Niall Ferguson hat 1998 in seinem Buch "Der falsche Krieg" mit der äußerst kritischen Beurteilung der als kriegstreibend gebrandmarkten britischen Außenpolitik und ihres Ministers Lord Grey Aufsehen erregt. Röhl hält nichts davon. Er reduziert das von Wilhelm als "Wort eines Königs" verkannte angebliche Neutralitätsversprechen von George V. zu "ein paar hingeworfenen Bemerkungen". Wilhelm nahm sie für bare Münze - ein Beleg "für panische Verwirrung und einen an Wahnsinn grenzenden Realitätsverlust". Dass Röhl seine Quellenfunde gern mit solchen vernichtenden Invektiven beschließt, zeigt allerdings eine Blickverengung, als wolle der Autor seinem unseligen Protagonisten all die 4028 Seiten vorhalten, die er ihm in den drei Bänden seines magnum opus widmen musste.
Dass Wilhelm sich bereits im November 1912 für einen europäischen Krieg entschieden habe, ist Röhls Überzeugung. So erklärte der Kaiser dem österreichischen Militärattaché in Berlin, "Deutschlands Schwert sitze schon locker in der Scheide, auf Uns können Sie zählen." Doch Röhl gerät der Unterschied zwischen Wortwahl und tatsächlichen Handlungen aus den Augen. Darauf macht Christopher Clark, der australische Autor des hochgelobten "Preußen"-Buches von 2007, in seinem jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen Buch "Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers", aufmerksam (Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008. 414 S., 24,95 €). Man nehme eine beliebige Äußerung des Kaisers, wie 1899 nach der Haager Friedenskonferenz: Er "scheisse auf die ganzen Beschlüsse". Doch was belegt eine solche Instinktlosigkeit mehr als den elenden Kasino-Ton, in dem sich Wilhelm wohlfühlte wie nur irgendein Reserveoffizier?
Nach 1914 verlor Wilhelm II abrupt beinahe jeden Einfluss
Röhls Überzeugung lautet, "dass Kaiser Wilhelm II. tatsächlich die zentrale politische Gestalt der wilhelminischen Epoche gewesen" sei. Im außen- und militärpolitischen Bereich sei er "ganz ohne Frage bis zum Kriegsausbruch 1914 die entscheidende Kraft" geblieben. Clark hingegen beleuchtet die stimmungsabhängige Wankelmütigkeit des Kaisers, die ihn als beteiligte, nicht aber als treibende oder gar allein entscheidende Kraft zeigt. Die Äußerungen Wilhelms vom Herbst 1912 mit Röhl als "Beginn einer strategischen Umorientierung von Ost nach West" zu bezeichnen, hieße, das außenpolitische Herumirren des "Obersten Kriegsherren" zu beschönigen, um die These von der "Vorentscheidung für den Krieg im Osten" aufrecht zu erhalten. Eines bleibt denn doch festzuhalten: Wilhelm II. war nicht Hitler.
Es ist der von Clark betonte "Kontext der Sprechakte", den Röhl mit seinen langen Zitaten beiseite drängt, sodass die Großmäuligkeit und Eitelkeit Wilhelms, sein unausgesetztes Bramarbasieren umso unangenehmer ins Auge stechen. Doch so sprunghaft die Persönlichkeit, so konsistent erscheint bei Röhl Wilhelms Handeln. Ganz anders Clarks Beobachtung, "das kaiserliche Amt" sei "kein Monolith", sondern " eine lose Ansammlung von Funktionen, deren wechselseitige Beziehung dynamisch war".
Wie dynamisch, zeigte sich vollends während des Krieges, als Wilhelm in grotesker Weise eine Entscheidungsgewalt beanspruchte, die ihm von den Militärs geradezu entrissen wurde - und schließlich auch vom Parlament bestritten. Bethmann Hollwegs Rücktritt am 13. Juli 1917 offenbarte die vollständige Machtlosigkeit des Kaisers. "Da kann ich ja gleich abdizieren", maulte er nur noch.
Es sollte nicht mehr lange dauern. Verstanden hatte Wilhelm nichts. "Ich denke nicht daran", erklärte er noch am 3. November 1918, "wegen der paar 100 Juden und der 1000 Arbeiter den Thron zu verlassen." So widerwärtig war Wilhelm zeitlebens, eine - buchstäblich von Geburt an - gebrochene Persönlichkeit. Mit Röhls monumentaler Biografie wissen wir alles, was über Wilhelm II. zu wissen lohnt, und dazu noch etliches mehr. Allerdings auch, dass Wilhelm bei allem Einfluss nicht die alles bestimmende Kraft der Politik war, zu der ihn Röhl erhöht.
John C. G. Röhl:
Wilhelm II. - Band 3: Der Weg in den Abgrund 1900 - 1941. C. H. Beck, München 2008, 1611 Seiten,
67 Abb., 49,90 Euro.
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