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Möchte lieber nicht. Aber was eigentlich? Jonas Götzinger war bei den „Schauspielfenstern“ des Hans Otto Theaters dabei. Er saß im Fenster der Buchhandlung Wist, als „Bartleby“. Am Theater soll eine Produktion zum Thema Verweigerung entstehen.
© M. Thomas

Schaufenstertheater in Potsdam: Der Höllenschlund hinter H&M

Mit den „Schauspielfenstern“ eroberte das neue Hans Otto Theater am Samstag die Brandenburger Straße. An 16 Stationen präsentierten Schauspieler Szenen von Stücken aus der kommenden Saison. Das Interesse war groß, doch einige Passanten reagierten irritiert. 

Potsdam - Eine Frau sitzt vor dem Schuhladen und probiert Schneeschuhe an. Altertümliche Teile aus Holzstreben, die sie über ihre Fellstiefel zieht. Sie trägt Mütze und Mantel, aber diese Seite der Brandenburger Straße liegt Samstagmittag Gott sei Dank im Schatten und Franziska Melzer muss vielleicht nur wenig schwitzen. Von 11 bis 13 Uhr ist die Schauspielerin des Hans Otto Theaters „Fräulein Smilla“.

Ihre Improvisation ist Teil der Aktion „Schauspielfenster“. Das HOT bespielte dabei 16 Stationen auf Potsdams belebter Fußgängerzone mit Szenen aus Stücken der kommenden Saison. Eine Idee, um den Potsdamern nicht nur das neue Programm, sondern auch das von Intendantin Bettina Jahnke neu zusammengewürfelte Ensemble vorzustellen. Jahnke und viele Theatermitarbeiter sind bei der Aktion in der Innenstadt dabei und kommen mit Zuschauern ins Gespräch. Außerdem gibt es einen Infostand.

Das Interesse ist groß, viele Zuschauer sind tatsächlich wegen der Performance gekommen und nicht zum Einkaufen. Sie lassen sich Zeit, bleiben gerne stehen, sind neugierig. Nicht mit allem können sie sofort was anfangen. Was zum Beispiel macht der Typ hinter der Fensterscheibe im Literaturladen Wist? Er sitzt, nackt bis auf die Unterhose, auf einem Hocker, malt seltsame Zeichen ans Glas oder knackt Nüsse. Dabei bewegt er sich unglaublich langsam, ohne jedoch unaufmerksam zu sein. Er bietet durchs Fenster sogar Nüsse an. Drei Frauen sind ratlos, machen aber mit ihrem Handy ein Video von Jonas Götzinger in „Bartleby – Ich möchte lieber nicht“: Ein Klassiker von Herman Melville über einen Menschen, der sich dem Wahnsinn der Welt durch Verweigerung entzieht, zu einer Zeit, als von der heute angesagten Entschleunigung noch lange keine Rede war. „Was will er lieber nicht?“, fragen die Frauen irritiert. Und wünschen sich eine Erklärung zu dem Stück.

Die Brandenburger Straße als Räuberburg. Marie Fischer und David Hörning als Ronja Räubertochter und ihr Freund Birk machten die Einkaufsmeile zum Abenteuerplatz.
Die Brandenburger Straße als Räuberburg. Marie Fischer und David Hörning als Ronja Räubertochter und ihr Freund Birk machten die Einkaufsmeile zum Abenteuerplatz.
© M. Thomas

Zwischen Esprit und H&M liegt plötzlich ein Höllenschlund

Aber es gab keine Erklärungen und es brauchte auch keine. Vieles kommt sogar ohne Worte aus, zum Beispiel der dänische Krimi „Fräulein Smillas Gespür für Schnee". Während die Schneeschuhfrau aus der Hocke heraus sogar einen großen Hund begrüßt, wortlos, nur mit ihren beinahe animalischen, bohrenden Blicken, zieht kurz nach elf Uhr ein markerschütternder Schrei durch die Straße – der „Frühlingsschrei“ von Ronja Räubertochter. Zwischen Esprit und H&M liegt plötzlich der Höllenschlund, der tiefe, gefährliche Felsspalt zwischen zwei Räuberburgen. Marie Fischer und David Hörning sind Ronja und Birk aus Astrid Lindgrens erfolgreichem Kinderbuch über das emanzipatorische Räubermädchen. Die Szene ist laut, beide schmettern wüste Flüche, die zwischen den Hauswänden hallen. Dann springen sie hin und her über imaginäre Klippen. Sieht aus wie viel Spaß, geht aber auf die Stimme – und auf die Knie. „Keine Sorge, auf der Schauspielschule lernt man, sich möglichst schonend auf die Fresse zu legen“, sagt Hörning. Familien mit Kindern bleiben stehen. Ein kleiner Junge fiebert mit, als Birk offenbar in Lebensgefahr schwebt, weil er abgerutscht ist und Ronja ihm ein Seil zuwerfen muss. Das Familienstück soll zu Weihnachten auf die Bühne. „Das schauen wir uns bestimmt an“, sagt eine Mutter.

Die vielen verschiedenen Mini-Vorschauen machen Lust auf mehr. Gemeckert wird natürlich trotzdem. Das Gesangsduo Bettina Riebesel und Jörg Dathe findet eine Dame grauenhaft. Das „Grauen“ aber gehört nun mal zur Inszenierung: Riebesel in Schlapphut und Blümchenhose und Dathe mit Topfschnitt und Sonnenbrille singen die Hits der DDR, Nina Hagen und Puhdys, schräge Marschmusik, eine herrliche Persiflage auf das verkorkste Glück des Sozialismus.

Selten ist man den Schauspielern so nah

Ein paar Häuser weiter wird man persönlich angesprochen. „Verstehen Sie was von Deichbau?“ Hier sieht es aus wie auf einer Baustelle, mit Schubkarre, Sandbergen, Säcken und Wasserkanne. Guido Lamprecht bereitet sich auf den „Schimmelreiter“ vor, der im März 2019 auf die Bühne kommt. Er hat kleine Deichmodelle gebaut und lädt ein zum Fachsimpeln über die richtigen Winkel und Schrägen – oder doch besser Lagunen anlegen zum Schutz vor Hochwasser? Wer mag, darf bleiben, sich auf einen umgestürzten Eimer oder die Fensterbrüstung setzen und bekommt den Beginn der Storm-Novelle vorgelesen, in der neben der eigentlichen Geschichte auch das Sujet des Erzählens eine Rolle spielt. So werden die Zuschauer ins Buch gezogen und sitzen gleich nicht mehr bei Fielmann auf dem Bürgersteig, sondern in einer sturmumtosten Kate hinterm Nordseedeich.

Im Internationalen Buch wird Henning Strübbe zum Ich-Erzähler aus Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ – das Stück eröffnet am 22. September die Spielzeit. Gegenüber geht es klassisch zu: mit Schillers „Kabale und Liebe“ in gefälligen historischen Kostümen. Mascha Schneider bietet als Luise Limonade an, ihrem Ferdinand und auch dem Publikum. Eine Frau schnuppert misstrauisch am Becher, bevor sie trinkt. Ihre Vorsicht ist nicht unbegründet: Luise wird von dem vergifteten Getränk gleich sterben – mitten auf der Friedrich-Ebert-Straße.

Die Grenze zwischen Spiel und Improvisation, Zuschauen und Mitmachen verschwimmt hier. Selten ist man den Schauspielern so nah, bisweilen auf Augenhöhe, ein Spielstein auf dem großen Spielbrett. Für eine Weile gehört man richtig dazu – ein gutes Gefühl. Dazu kommt die Erkenntnis, dass das Theater gar nicht so weit weg ist von seiner Stadt.

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