Biografie: Der heilige Masochist
Ein Künstlerleben in Galizien: Jerzy Ficowski geht den Lebensspuren von Bruno Schulz nach. Das lange Sterben des Vaters war immer wieder sein Stoff.
Ehemalige Schüler berichteten Erstaunliches von ihrem Zeichenlehrer Bruno Schulz: Wenn sie ihm zu unruhig wurden, begann er aus dem Stegreif fantastische Handlungen zu entwickeln, deren Figuren er an die Tafel zeichnete. Für den maßgeblichen Schulz-Biografen, den polnischen Dichter Jerzy Ficowski, gehörten solche Erinnerungen zu den glücklichen Funden. Der 2006 gestorbene Ficowski hat fünf Jahrzehnte lang nach den in alle Winde zerstreuten Relikten, Zeichnungen und Manuskripten von Bruno Schulz gesucht. Ficowskis letzte große biografische Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf gerettete Briefe. Hinzu kommen Kapitel über Weggefährten und eigene Nachforschungen im heute ukrainischen Drohobycz, der Geburtsstadt von Schulz, die er kaum verlassen hat.
So oft Bruno Schulz über sein ereignisloses Leben klagte und davon sprach, nach Lemberg oder Warschau zu ziehen, so eng war seine Bindung an das am Marktplatz gelegene Elternhaus mit dem Tuchladen des Vaters, die Seitengassen, in denen die wegen ihrer dunklen Täfelung so genannten Zimtläden lagen, und sein Gymnasium, an das er nach einem abgebrochenen Architekturstudium 1924 als Lehrer für Zeichnen und Werkunterricht zurückkehrte. Von dem neuen Wohlstand, den eine um 1900 entstehende Erdölindustrie Drohobycz brachte, blieb die Familie ausgeschlossen. Mit dem Tod des Vaters 1915 und der Zerstörung des Ladens im Ersten Weltkrieg fand nicht nur die Jugend von Bruno Schulz ihr Ende, mehr und mehr verschwanden auch die Spuren jüdischer Kaufleute aus dem Stadtbild.
Bruno Schulz hat lange gehofft, dem ungeliebten Brotberuf als bildender Künstler zu entgehen. Er ist ein hervorragender Porträtist, der sich autodidaktisch Verfremdungstechniken erarbeitet, auch seine eigene Gestalt in Akten der Selbstverspottung gnomenhaft verkürzt und deformiert darstellt. Dass zur gleichen Zeit die Geschichten des Stegreiferzählers Schulz Konturen annehmen, ahnen damals nur die Adressaten seiner Briefe. Die Empfänger gehören meist – wie er selbst – der nicht-orthodoxen jüdischen Intelligenz an. Debora Vogel, eine junge Dichterin aus Lemberg, wird nach 1930 zu seiner Muse. Sie hilft ihm auch bei der Veröffentlichung seines Erzählbandes „Die Zimtläden“, der ihn 1934 schlagartig bekannt macht.
Bruno Schulz hat immer wieder auf einen zentralen autobiografischen Stoff, die letzten Lebensjahre seines Vaters zurückgegriffen. Die früheste Version dieses „in Raten zerkrümelten“ Ablebens scheinen die Erzählungen des erst 1937 veröffentlichten Bandes „Das Sanatorium zur Todesanzeige“ gewesen zu sein. In den „Zimtläden“ entwickelt der Tuchhändler Jakub gerade angesichts seines Verfalls ungeahnte Kräfte. Die Geschichten beginnen mit einem Prosagedicht auf die irdische Schönheit eines Spätsommertages, als die Welt seines Sohnes Józef noch in Ordnung schien; aber bald glaubt Józef in der Stille der Nacht die Stimme eines zornigen Propheten zu hören, eines „Titanen mit gebrochener Hüfte“. Der Vater wird zu einem gegen die Schöpfung revoltierenden „Häresiarchen“, der seinen Näherinnen in einem „Traktat über die Schneiderpuppen“ erklärt, es gebe keine toten, fest begrenzten Dinge, alles befinde sich in einem „Zustand permanenten Gärens und Keimens“. Während er selbst einem Kondor immer ähnlicher wird, zieht er auf dem Dachboden Populationen hybrider Vogelwesen heran – bis Adela, das Hausmädchen, eines Tages dem ganzen Spuk mit dem Flederwisch ein Ende macht. Die melodischen und sprachmagischen Elemente, auf die Bruno Schulz so großen Wert legte, das labyrinthische Wuchern der Wörter – all das ist in der ausgezeichneten Neuübersetzung von Doreen Daume noch um vieles suggestiver (Hanser, 232 Seiten, 21,50 €).
Von der Anerkennung der „Zimtläden“ ermutigt, bricht Bruno Schulz 1938 nach Paris auf, nimmt weite Umwege in Kauf, um nicht durch das nationalsozialistische Deutschland zu fahren. Er korrespondiert mit Thomas Mann und Joseph Roth, befreundet sich mit zwei Schriftstellern der Warschauer Avantgarde: Stanislaw Witkiewicz und Witold Gombrowicz. Schulz gilt in ihrem Kreis als masochistischer „Heiliger“, rückhaltlos einer Kunstanbetung ergeben.
Als 1941 deutsche Truppen in Drohobycz einmarschieren, verliert Bruno Schulz seinen Beruf. Da er für drei Verwandte zu sorgen hat, geht er auf Angebote der neuen Machthaber ein, sich mit Malerarbeiten Extrarationen zu verdienen. Für den Polizeikommissar Felix Landau, der mit seiner Familie in einer Villa lebt, stattet er das Kinderzimmer mit farbigen Märchenfiguren aus, wird dafür sogar gelegentlich zu Tisch gebeten. Diesen Sonderstatus bezahlt er wenig später mit dem Leben. Im gerade eingerichteten Ghetto wird er 1942 auf offener Straße erschossen – von einem Rivalen Landaus, einem Gestapobeamten, der sich damit für den Tod seines eigenen jüdischen Schützlings, eines Zahnarztes, rächte.
2001 entdeckt der Dokumentarfilmer Benjamin Geissler hinter den Regalen einer Speisekammer in der ehemaligen „Villa Landau“ Reste einer farbigen Wandbemalung, nach der Ficowski vergeblich gesucht hatte: Restauratoren legen die Umrisse einer Prinzessin, eines Königs, eines Kutschers frei. Während polnische und ukrainische Behörden noch verhandeln, werden die Bilderreste von israelischen Experten abgenommen. Sie befinden sich heute in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.
Jerzy Ficowski war nicht der einzige, den dies brüskierte. Das letzte Märchen von Bruno Schulz hat seine eigene Geschichte, es ist zur Parabel dafür geworden, wie er die Wirklichkeit sah: als einen verlorenen, vielfach zerrissenen mythischen Sinn, der sich erst im Erzählen wieder erschließt.
Jerzy Ficowski: Bruno Schulz 1892 - 1942. Ein Künstlerleben in Galizien. Aus dem Englischen von Friedrich Griese. Carl Hanser Verlag, München 2008. 192 Seiten, 19,90 €.
Rolf Strube
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