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© Axel Schmidt/ddp

Berliner Literaturfestival: Demokratie in Apathie

Arundhati Roy eröffnet mit einer fulminanten Rede das Berliner Literaturfestival. Freundlicher und bei allem Zorn gelassener als die indische Schriftstellerin dürfte noch niemand die Allianz einer zur Formalie verkommenen Demokratie, eines den ökologischen Selbstmord in Kauf nehmenden freien Marktes und einer Völkermordpolitik untersucht haben.

Ein jeder Begriff hat seine Zeit. Auch die Demokratie als strahlendste Sonne des westlichen Universums hat wohl ihre besten Jahre hinter sich. Wie auf die Moderne eine Postmoderne folgte und auf die Geschichte ein Posthistoire, ist nun wohl eine postdemokratische, mehr noch: eine postpolitische Epoche angebrochen. Vor dem Haus der Berliner Festspiele wurde eine Zeitung verteilt, in der Colin Crouch, der britische Cheftheoretiker der Postdemokratie, und seine belgische Kollegin Chantal Mouffe für ein mehrtägiges Festival im HAU warben, das kurz vor der Bundestagswahl klären soll, was es heißt, in einem apathischen,von bürgerschaftlichem Engagement freien und dafür von Konzerninteressen bestimmten Raum „Nach der Demokratie“ zu leben.

Im Inneren des Hauses aber fand zur Eröffnung des Literaturfestivals schon einmal ein Totengesang statt, dessen geschliffener Wohlklang die Grausamkeit der heraufbeschworenen Apokalypse immer wieder überdeckte. Freundlicher und bei allem Zorn gelassener als die indische Schriftstellerin Arundhati Roy dürfte noch niemand die Allianz einer zur Formalie verkommenen Demokratie, eines den ökologischen Selbstmord in Kauf nehmenden freien Marktes und einer Völkermordpolitik untersucht haben. Dankbarer wird sich auch noch kein Publikum den Vorwurf gefallen lassen haben, dass es – als Teil einer moralisch untadeligen, aber unverantwortlich rohstoffgierigen Welthälfte – letztlich ein Komplize dieser Entwicklung sei.

Indien, so fürchtete Roy in ihrem Vortrag über „Das schwindende Licht der Demokratie“, steht „an der Schwelle eines Genozids“, falls die Regierung im Oktober, nach dem Ende des Monsuns, tatsächlich Soldaten und paramilitärische Truppen in einen „Antiterrorkrieg“ nach Kaschmir, Nagaland und Manipur schickt, einen entschieden antimuslimischen Krieg, der mit demjenigen „um natürliche Ressourcen“ konvergiert.

Das Sinnbild dieses Konflikts sah Roy im langsam abschmelzenden und die Täler bedrohenden Gletscher von Siachen an der Grenze zu Pakistan, wo sich indische und pakistanische Soldaten bei Temperaturen bis zu minus vierzig Grad gegenüberstehen und das „höchstgelegene Schlachtfeld der Welt“ in eine Müllkippe verwandeln: „Tausende von leeren Giftgasgranaten, Trommeln, Eispickel, alte Stiefel, Zelte“, alles im Eis konserviert, ein „unverdorbenes Monument menschlichen Irrsinns“.

Was folgt daraus? Ein Unbehagen, ein schlechtes Gewissen, vielleicht sogar einen Schmerz gibt es gratis. Er ist nicht mehr als die nach innen gerichtete Kehrseite einer Gleichgültigkeit, die sich nach außen gerne mit der Einsicht in die realpolitischen Zwänge verteidigt – und im Falle Indiens an Bündnissen mit den USA und Israel ausrichtet. Soll man Indien, das seinen ökonomischen Fortschritt offenbar auf dem Rücken der Landbevölkerung austrägt, etwa isolieren wie einen Schurkenstaat?

Die Frage ist womöglich falsch gestellt. Denn Roys Leistung liegt zunächst im radikalen, aber gedanklich keineswegs schlichten Benennen von Verhältnissen. Was diese allerdings undurchdringlich wirken lässt, sind die sich überlagernden Klagen über den Wahnsinn, der sich bei der Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen austobt, und die Methode, mit der er angeblich die Lebensraum-Ideologie beerbt. Die Abwesenheit von Vernunft und ihr Übermaß formieren sich hier zu einem lähmend unheilvollen Zusammenhang. Die Rede von einem Mangel an Demokratie ist dafür nur eine mögliche Metapher – nicht anders als die Hoffnung auf ihre Rückgewinnung.

Arundhati Roys Rede ist nachzulesen unter www.literaturfestival.com (Archiv)

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