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Lektüretipps: Das Zug-Gefühl

Alle Räder stehen still. Was tun, wenn die Lokführer streiken? Lektüretipps für den Wartesaal.

Ticketkauf

Die Wahrheit ist, dass ich gern im Zug sitze und aus dem Fenster sehe, meine Fantasie in Gang kommen lasse und allerlei Pläne mache. Das einzige, was mich bisher daran gestört hat, war die Zumutung, irgendwo aussteigen zu müssen, weil die Fahrt zu Ende war. Aus diesem Grund kaufte ich mir eine Netzkarte.

(Sten Nadolny: Netzkarte, 1981. Piper)

Bahnhof

Als er den Bahnhof betrat, spürte er sogleich das mächtigferne Summen der Zeit, das ihn erfüllte. Breite Streifen staubigen Lichts fielen schräg auf den Boden der Bahnhofshalle, und unter den Gewölben des gewaltigen Raumes geisterte die unentwegte Stimme der Zeit wie ein Niederschlag aus den Stimmen und dem Gewimmel des Menschenschwarms. Es klang wie fernes Meeresrauschen, wie das gedämpfte Steigen und Zurückfluten des Wassers am Strand.

(Thomas Wolfe: Es führt kein Weg zurück, 1940. Rowohlt)

Bahnsteig

Tatsächlich, in der Ferne pfiff schon die Lokomotive. Ein paar Minuten später erzitterte der Bahnsteig, und keuchend ihren Dampf ausstoßend, den die Kälte nach unten drückte, rollte die Lokomotive vorbei; der Hebel am Mittelrad beugte und streckte sich langsam und taktmäßig, der dick vermummte, rauhreifbedeckte Lokomotivführer salutierte, und hinter dem Tender, immer langsamer und den Bahnsteig immer stärker erschütternd, glitt der Gepäckwagen vorbei, in dem ein winselnder Hund saß; endlich folgten die Personenwagen und hielten mit leisem Zittern.

(Lew N. Tolstoi: Anna Karenina, 1877)

Lokomotivführer

Hier also lebte Lukas der Lokomotivführer mit seiner Lokomotive. Die Lokomotive hieß Emma und war eine sehr gute, wenn auch vielleicht etwas altmodische Tender-Lokomotive. Vor allem war sie ein bisschen dick. Jetzt könnte natürlich leicht jemand fragen: Wozu ist denn in einem so kleinen Land eine Lokomotive notwendig? Nun, ein Lokomotivführer braucht eben eine Lokomotive, denn was sollte er sonst führen? Vielleicht einen Fahrstuhl? Aber dann wäre er ein Fahrstuhlführer. Und ein richtiger Lokomotivführer will Lokomotivführer sein und sonst gar nichts. Außerdem gab es auf Lummerland auch gar keinen Fahrstuhl.

(Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, 1969. Thienemann)

Einsteigen, bitte

Früher hatte er nie gewusst, wie man reist. Er stieg in die Züge mit Herzklopfen und wenig Geld. (…) Diesmal aber hatte er den Fahrplan gelesen, sein neues Gepäck gezählt, einen Träger genommen. Er hatte einen reservierten Platz und Reiselektüre. Er wusste, wo er umsteigen wollte, und das Geld ging ihm nicht schon auf dem Bahnsteig aus, nachdem er einen Kaffee getrunken hatte. Er reiste wie ein Mensch von Distinktion und so ruhig, dass keiner ihm sein Vorhaben ansah. Er hatte vor, das Wanderleben zu beenden. Er wollte umkehren.

(Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr, 1961. Piper)

Abfahrt

Zwei Reisetaschen entfernen den Menschen – und gar den jungen, im Leben noch wenig fest wurzelnden Menschen – seiner Alltagswelt, all dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte, viel mehr, als er sich auf der Droschkenfahrt zum Bahnhof wohl träumen ließ. Der Raum, der sich drehend und fliehend zwischen ihn und seine Pflanzstätte wälzt, bewährt Kräfte, die man gewöhnlich der Zeit vorbehalten glaubte; von Stunde zu Stunde stellt er innere Veränderungen her, die den von ihr bewirkten sehr ähnlich sind, aber sie in gewisser Weise übertreffen. Gleich ihr erzeugt er Vergessen; er tut es aber, indem er die Person des Menschen aus ihren Beziehungen löst und ihn in einen freien und ursprünglichen Zustand versetzt – ja, selbst aus dem Pedanten und Pfahlbürger macht er im Handumdrehen etwas wie einen Vagabunden. Zeit, sagt man, ist Lethe; aber auch Fernluft ist so ein Trank, und sollte sie weniger gründlich wirken, so tut sie es dafür desto rascher.

(Thomas Mann: Der Zauberberg, 1924. S. Fischer)

Unterwegs

Zartes Licht durchflutete die Abteile. Für einen Augenblick hätte man meinen können, die Sonne wäre der sinnfällige Ausdruck eines Wesens, das die Menschheit liebte und für sie litt. Menschliche Wesen schwammen gleich Fischen frei von dem Zwang der Schwere im goldenen Wasser, ohne Schwingen, durchsichtig schwebten sie in einem gläsernen Aquarium. Hässliche Gesichter und ungestaltete Leiber wurden verwandelt, wenn schon nicht zur Schönheit, so doch zu einem grotesken Aussehen, das mit spöttisch-zärtlicher Zuneigung geformt war.

(Graham Greene: Orientexpress, 1932. Zsolnay)

Regionalbahn

Nach und nach verließen alle Einheimischen den Zug, bis ich allein im Waggon blieb und unruhig wurde. Die Abstände zwischen den Stationen wurden immer kürzer, die Ansagen immer undeutlicher. Alle zwei Minuten hielt der Zug an irgendeinem kleinen, manchmal überhaupt nicht erkennbaren Bahnhof. (...) Der Lokomotivführer sagte zwar die Stationen durch die Lautsprechanlage an, trotzdem verlor ich die Orientierung. Entweder sprach er einen mir nicht zugänglichen Dialekt, oder er kaute jedes Mal an einer Maultasche – ich konnte jedenfalls kein Wort verstehen. Alles aus seinem Munde klang wie „Schuschihein“ für mich.

(Wladimir Kaminer: Mein deutsches Dschungelbuch, 2003. Manhattan)

Zug der Liebe

Ich fand das ganz große Glück

mit dir im Zug nach Osnabrück.

Du hast mich angemacht

so kurz vor Offenbach,

wir haben Sekt bestellt,

gleich hinter Bielefeld.(...)

Wir fingen an zu schmusen

beim Halt in Leverkusen,

dein süßes Muttermal

fand ich in Wuppertal.

(Schlager von Cliff und Rexonah, 1997)

Zug des Todes

Über Krakau

bist du gekommen, am Anhalter

Bahnhof

floß deinen Blicken ein Rauch zu,

der war schon von morgen.

(Aus Paul Celan: „La Contrescarpe“, 1962, in: Die Niemandsrose. S. Fischer)

Winterreise

An einem trüben, feuchten Novembermorgen gegen neun Uhr dampfte der Eilzug der Petersburg –Warschauer Bahn Petersburg zu. Kaum vermochte sich das Tageslicht durch den dicken Nebel hindurchzuringen, und man konnte aus den Coupéfenstern nur auf ganz kurze Entfernung ausnehmen, was in dem Tauwetter, grau und nass, zu beiden Seiten des Bahndammes gelegen war.

(Der Anfang von Fjodor Dostojewski: Der Idiot, 1868. Piper)

Bahnhof (2)

So wie viele andere, die lange in einer großen Hauptstadt gelebt haben, hatte auch sie entschiedene Ansichten über die verschiedenen Bahnhöfe. Sie sind unsere Tore zur Herrlichkeit in der Fremde. Durch sie fahren wir hinaus zu Abenteuern und Sonnenschein, zu ihnen kehren wir – leider! – wieder zurück.

(E. M. Forster: Wiedersehen in Howards End, 1910. Goldmann)

Bahnhofskneipe

Jeder Reisende kennt diese Misslichkeit: diese Mischung aus Müdigkeit und Besorgnis. Man starrt unnachgiebig Ziffernblätter und Fahrpläne an, verfolgt die Krampfadern des Marmors unter seinen Füßen, atmet Ammoniak und jeden anderen stumpfen Geruch ein, der in kalten Winternächten dem Gusseisen von Lokomotiven entströmt. So ging es mir.

(Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen, 1989. Hanser)

Schwarzfahrer

Wie immer treffe ich so frühzeitig im Hauptbahnhof ein, dass ich mich von meiner Nervosität wieder erholen kann. Ich habe bis gegen 18.30 Uhr gearbeitet, damit ich den Intercity um 19.15 Uhr bequem erreiche. Mit mir sind Hunderte von Wochenendpendlern unterwegs, die sich rasch auf die Züge verteilen. Ich warte noch ein wenig auf dem Bahnsteig, bis alle Plätze in meinem Zug besetzt sind und in den Gängen kaum noch ein Stehplatz zu haben sein wird. (…) Ich suche mir einen Stehplatz in der Nähe einer Toilettentür. Der Grund für mein Verhalten ist einfach: Ich fahre schwarz. Ich muss versuchen, so viel Geld wie möglich zu sparen. Solange der Zug überfüllt ist, hat der Schaffner kaum eine Chance, die Fahrkarten aller Reisenden zu kontrollieren. Ab Karlsruhe wird der Zug leerer, dann verschwinde ich, falls der Schaffner doch in meine Nähe vordringt, für ein paar Minuten in der Toilette. In den zwei Jahren, seit ich hier arbeite und an den Wochenenden in den Schwarzwald fahre, habe ich nur zweimal nachlösen müssen.

(Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh, 2007. Hanser)

Weichensteller

Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.

(Der erste Satz aus Uwe Johnson: Mutmaßungen über Jakob, 1959. Suhrkamp)

Fernreise

Der Zug fährt in Buenos Aires ab, legt anderthalbtausend Kilometer zurück, hält mitten in der Wüste an, und du steigst aus. Du siehst dich um: Du bist allein.

(Paul Theroux: Der alte Patagonienexpress, 1979. Hoffmann & Campe)

Coupé

Es ist ein dummer Reflex, jetzt an meinem Rock zu ziehen, als würde er länger davon. Es ist überhaupt dumm, einen so kurzen Rock anzuziehen auf einer Bahnfahrt, weil man nie weiß, wer einsteigt, wenn einem die eigenen Leute schon auf den ersten Seiten schriftstellerisch entgleiten. Der Rock ist unanständig, es ist unfassbar, wie ich darauf gekommen bin, zu dem unanständig kurzen hellen Rock schwarze Strümpfe zu tragen, der Rock wird nicht länger durch Daranziehen, was Viszmans Blick selbstverständlich nicht entgeht: Eine Frau zwischen dreißig und vierzig beantwortet seinen männlichen Wir-zweiallein-im-Abteil-Blick, indem sie ihren Rock übers Knie zu zerren versucht.

(Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord, 1995. Fischer TB)

Speisewagen

„Um uns herum sitzen Menschen aller Schichten, aller Nationalitäten, jeden Alters. Für drei Tage bilden diese Menschen, lauer Fremde füreinander, eine Gemeinschaft. Sie schlafen und essen unter einem Dach, sie können sich nicht aus dem Weg gehen. Und nach den drei Tagen trennen sie sich wieder, jeder geht seine eigenen Wege, und sie werden sich vielleicht nie wieder sehen.“ – „Dennoch“, meinte Poirot, „nehmen wir einmal an, ein Unglück …“

(Agatha Christie: Mord im Orientexpress, 1934. Fischer TB)

Nachtzug

Als ich am späten Nachmittag, nachdem ich meine Großmutter zu ihrer Freundin begleitet und selbst noch ein paar Stunden dort geblieben war, allein mit dem Zuge weiterfuhr, war mir der Gedanke an die vor mir liegende Nacht nicht mehr unangenehm; ich brauchte sie ja nicht gefangen in einem Zimmer zu verbringen, dessen schwere Verschlafenheit mich selber wach halten würde; vielmehr war ich von der beruhigenden Geschäftigkeit des Zuges umhegt, die mir Gesellschaft leistete, bereit, mich zu unterhalten, wenn ich nicht schlafen konnte, und die mich wiegte mit ihrem Geräusch, das ich wie den Klang der Glocken in Combray bald der einen, bald der anderen Melodie unterlegte (wobei ich ganz nach Belieben zuerst vier gleichmäßige Sechzehntel, dann ein Sechzehntel heraushörte, das nur der kurze Vorschlag einer Viertelnote war), diese Rhythmen hoben die Zentrifugalkraft meiner Schlaflosigkeit auf, indem sie einen Gegendruck darauf ausübten, der mich im Gleichgewicht hielt und auf welchen gestützt meine Reglosigkeit und bald darauf mein Schlaf sich mit der gleichen Empfindung von frischer Kühle dahinschweben fühlten, die mir eine auf der Wachsamkeit mächtiger Kräfte der Natur und des Lebens basierende Ruhe hätte geben können, wenn ich vermocht hätte, mich einen Augenblick lang in einen Fisch zu verwandeln, der im Meere schläft und wohlig benommen durch Flut und Strömung gleitet, oder in einen Adler, der seine Schwingen machtvoll gegen den Auftrieb des Sturmes stemmt. Sonnenaufgänge gehören zu langen Eisenbahnfahrten wie hartgekochte Eier, illustrierte Zeitschriften, Kartenspiele und Flüsse, auf denen Kähne sich abmühen, ohne vorwärtszukommen.

(Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1915. Suhrkamp)

Gegenzug

Gespräche über dieses Thema verursachten Flaubert eine colique des wagons; im Juni 1843 bezeichnete er die Eisenbahn als das drittlangweiligste Thema, das man sich vorstellen könne, nach Mme. Lafarge (einer Arsenmörderin) und dem Tod des Duc d’Orléans (der im Jahr zuvor in seiner Kutsche ums Leben gekommen war). Doch er hasste die Eisenbahn nicht nur als solche; er hasste die Art, wie sie den Leuten mit der Illusion von Fortschritt schmeichelte. Was nutzte wissenschaftliches Vorwärtskommen ohne moralisches Vorwärtskommen? Die Eisenbahn würde bloß noch mehr Leuten gestatten herumzufahren, sich zu treffen und zusammen dumm zu sein. In einem seiner ersten Briefe, den er mit 15 schrieb, listet er die Untaten der modernen Zivilisation auf: „Eisenbahnen,Gifte, Klistierspritzen, Cremetorten, das Königtum und die Guillotine.“

(Julian Barnes: Flauberts Papagei, 1984. btb)

Zug des Lebens

It takes a lot to laugh,

It takes a train to cry.

(Song von Bob Dylan, 1965)

Höllenzug

„Wenn etwas nicht stimmt mit diesem Tunnel, dessen Vorhandensein Sie selbst nicht erklären können, haben Sie den Zug anzuhalten.“ – „Den Zug anhalten?“ antwortete der andere langsam, gewiss, daran habe er auch schon gedacht (…) Ob er die Notbremse ziehen solle, fragte der junge Mann und wollte nach dem Haken der Bremse über seinem Kopf greifen, torkelte jedoch im selben Augenblick nach vorne, wo er an die Wand prallte. Ein Kinderwagen rollte auf ihn zu, und Koffer rutschten heran; seltsam schwankend kam auch der Zugführer mit vorgestreckten Händen durch den Packraum. „Wir fahren abwärts“, sagte der Zugführer.

(Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel, 1952. Diogenes)

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