Kultur: Das süße Anderswo
Am morgigen Donnerstag hat „Frühlings Erwachen! (Live Fast – Die Young)“ in der Reithalle Premiere – der Autor und Regisseur Nuran David Calis hat die Textvorlage dafür neu geschrieben
Die Geschichte von Nuran David Calis liest sich fast zu schön, um wahr zu sein. Die verkürzte Variante geht so: vom Türsteher in Bielefeld-Baumheide zum Autor und Regisseur am Deutschen Theater Berlin! Bielefeld-Baumheide, das sollte man wissen, um das Ausrufezeichen, das Staunen dahinter verstehen zu können, muss man sich als eine Art Bielefelder Variante von Marzahn für Migranten vorstellen. Nur dass man von Baumheide nicht per U-Bahn in die Stadtmitte kommt, sondern mit einem Bus, der braucht 45 Minuten und ab 23 Uhr ist Schluss.
Bielefeld-Baumheide, der Ort, an dem David Nuran Calis 1976 geboren wurde, ist offener oder heimlicher Protagonist in fast allem, was der Autor Calis schreibt. Das „South Central von Bielefeld“, das „Afghanistan des heutigen Asiens“ wurde herumgebaut um eine Müllkippe und ein Klärwerk. Nicht immer lässt Calis seinen Protagonisten Baumheide so ausführlich auftreten wie in seinem Romandebüt „Der Mond ist unsere Sonne“ (S. Fischer Verlage 2011, 17,95 Euro): „Und wenn du kein Auto hast, wer hat hier in Baumheide schon ein Auto, wie willst du dann zur Arbeit kommen, die vielleicht eine Schichtarbeit ist, aber so weit kommt es ja meistens gar nicht, denn Arbeit gibt es nicht ohne Abschluss, den du nicht bekommen kannst, weil die Schule, auf der du gelandet bist, fast zu hundert Prozent aus Leuten wie dir besteht, ohne Sprache, ohne Heimat.“
Es ließe sich lang aus dem Hassliebeslied auf Baumheide zitieren, so sprachlich dicht, zart und kühl ist das Porträt des Stadtteils, das der Roman zeichnet. Der hier spricht, heißt Alen, Calis‘ Alter Ego. Alen ist wie Calis armenischer Abstammung, die Eltern sind aus der Türkei eingewandert. Alen ist Schulabbrecher, Türsteher im „Glashaus“, einem Hip-Hop-Club, und als er Flo kennenlernt, ein Mädchen „von drüben“, aus dem anderen, deutschen Bielefeld, beginnt er sich innerlich von Baumheide zu lösen. Aber auch da, wo es in Calis’ Texten nicht mehr um Baumheide geht, geht es um Baumheide. Um diesen mal neidvollen, mal verächtlichen Blick von der Peripherie auf ein Zentrum, den Blick auf eine Gemeinschaft, die als fern, verschlossen und das Gegenteil von der eigenen wahrgenommen wird. Um die Distanz dazwischen.
Dabei geht es um viel mehr als nur um Deutsche und Nicht-Deutsche. Baumheide, das ist Stillstand, ist das, was einen vom Weggehen abhält, das ist der Graben zwischen grauem Jetzt und einer herbeigesehnten Zukunft, die nichts weniger als golden sein darf. Baumheide, das ist der Impuls für die beißende Sehnsucht nach einem süßen Anderswo. „Habt ihr schon mal daran gedacht abzuhauen?“, ist die fast ketzerische Kernfrage, die Alen eines Nachts seinen Kumpels stellt. Diesen Fernwehvirus, den haben alle Figuren in Calis‘ Texten gemeinsam. Ob sie nun Serkan heißen oder Romeo – oder Moritz, der unglückselige Dichtertraumtänzer aus „Frühlings Erwachen (Live Fast – Die Young)“, das am morgigen Donnerstag am Hans Otto Theater Premiere hat.
David Nuran Calis selbst schmiss 2002 seinen Bielefelder Job als Türsteher hin und entschied, stattdessen Theater zu lernen. Er studierte in München Regie, schrieb Stücke darüber, wie die Baumheider Heimatlosigkeit irgendwie doch zur Heimat wird („Heimattrilogie“, 2002 bis 2006) und schnitzte, oft im Auftrag von großen Theaterhäusern, Theaterklassikern in wilden hip-hop-durchtränkten Bearbeitungen „Baumheide“ in die morsche Rinde. Die deutschen Stadttheater umgarnten schnell diesen exotischen Ex-Türsteher in Kapuzenpulli oder Lederjacke mit der erstaunlich sanften Stimme über den breiten Schultern. Zudem einer, der die Institution Stadttheater stets tapfer verteidigt – auch im Rahmen der scharf geführten Diskussionen, was das denn für „Stadttheater“ sein sollen, die nur für einen verschwindenden Anteil in der Bevölkerung spielen: die bildungsbürgerliche weiße Mittelschicht.
Calis liebt das Stadttheater und das Stadttheater liebt ihn zurück. Als sich um 2010 herum das ganze Land fragte, warum da so wenige Migranten im und auf dem Theater zu sehen seien, profitierten die Theater von Calis‘ Aura der gewünschten Street Credibility, um ihre Häuser auch anderen Zuschauern, jungen oder nicht-nur-deutschen, zu öffnen: Für das Staatsschauspiel Dresden entstand 2009 „Metapher d’Sihad (Peer Gynt)“, für das Berliner Maxim Gorki Theater im gleichen Jahr „Romeo und Julia – Death is sure, life is not“, für Stuttgart 2011 „Dantons Tod“ nach Büchner. Nicht immer wurde Calis‘ Verbaumheidung der Vorlagen euphorisch aufgenommen. Ein „sehr dünnes Süppchen Menschenkunde“ schrieb ein unwirscher Kritiker über die von Calis selbst auf die Bühne des Deutschen Theaters gebrachte Fassung der „Schattenkinder“. Ein Sturm-und-Drang-Drama nach Heinrich Leopold Wagner. Calis hatte es vor dem Ausgang eines Clubs spielen lassen, mit Videoschnipseln, vielen Bässen und so viel Jugendtümelei versehen, dass einige der Schauspieler sich sichtbar verrenken mussten, um da mitzukommen.
Es ist eine heikle Frage, die sich auch die Premiere von „Frühlings Erwachen! (Live Fast – Die Young)“ am Donnerstag stellen lassen muss: Wie viel Extra-Jugend braucht Jugend heute, um mit alten Stoffen umgehen zu können? Warum eigentlich muss „Frühlings Erwachen“ überhaupt neu geschrieben werden? Für die richtigen Themen hat bekanntlich Wedekind schon 1891 gesorgt: das erste Mal Sex. Immer noch nicht das erste Mal Sex. Überhaupt, die Triebe! Die erdrückenden Autoritäten. Der, teils selbst gemachte, Leistungsdruck. Und natürlich, siehe oben: die betörende Idee, dass irgendwo anders alles, alles anders wäre – hier gepaart mit einer großen Portion Unlust am Leben. Um 1900 war all das so jugendlich, dass es fünfzehn Jahre lang nicht aufgeführt werden konnte.
Heute spart sich Calis die in den autoritären Witzfiguren Direktor Sonnenstich nebst Lehrern Hungergurt, Knochenbruch und Knüppeldick angelegte Sozialsatire und zurrt die Handlung auf sieben Jugendliche zusammen. Vor allem auf Moritz, der unterm Druck der Eltern leidet, Melchior, der Aufschneider, der sich an Wendla ausprobiert, und Wendla, die vierzehnjährig von ihm schwanger wird. Heute muss niemand mehr um sexuelle Aufklärung bei den Eltern betteln, heute kann Wendla der Mutter beim Frühstück eröffnen: Ich bin schwanger. Bei Wedekind sorgte die wilde Zeichensetzung für Atemlosigkeit, Calis lässt seine Jungs rappen. Hier der genialisch-düstere Melchior: „Übermutter, Atheist – Glaubenskrieger – Bösewicht – Liberaler Revoluzzer – Fütter diesen Löwen nicht!“
Bevor Sie großmütig schmunzeln oder hämisch lachen, verehrte Leserinnen und Leser, lesen Sie die Reime laut. Mit der notwenigen Überzeugung, ohne Ironie. Dann blitzt er womöglich auf, der komische, heilige Ernst eines Serkan, Romeo, Moritz oder Melchior. Stolpernde Löwen, die nichts als weg wollen aus Baumheide.
Premiere am morgigen Donnerstag, 19.30 Uhr, in der Reithalle in der Schiffbauergasse.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität