"Der gebrauchte Jude" von Maxim Biller: Das Lebensthema finden
„Der gebrauchte Jude“– Maxim Biller erzählt, wie er Journalist und Schriftsteller wurde.
Welch hohe Meinung Maxim Biller von sich hat und vermutlich schon im Sommer 1982 hatte, erfährt man allein auf den ersten Seiten seines „Selbstporträts“ mit dem Titel „Der gebrauchte Jude“. Da erzählt er, wie seine Schwester nach der Lektüre seines ersten Romans zu ihm sagt: „Ich dachte, Thomas Mann ist schon tot.“ Und er erzählt, wie die mit ihm befreundete Tochter des Großkritikers Joachim Kaiser ihm eines Tages mitteilt, ihr Vater wolle diesen Roman lesen. „Meinen Roman? Joachim Kaiser? Warum nichts von Böll oder Handke? Warum nicht ein wiederentdecktes Manuskript von James Joyce?“
Ja, warum bloß? Vielleicht, sinniert Biller, weil er einmal den Nobelpreis für Literatur bekommen will, wie die Tochter ihrem Vater geflüstert haben könnte. Vielleicht, weil er mindestens so schnell reden kann wie Kaiser. Vielleicht aber auch, weil er Jude ist, aus Prag stammt und seine Eltern aus Russland?
Bescheidenheit ist nicht Billers Zier, und ohne eine ordentliche Portion Narzissmus kommt nicht mal ein Schriftsteller auf den Gedanken eines Selbstporträts. Viel krasser und imposanter jedoch ist, wie Maxim Biller im Folgenden sein ureigenstes Thema verfolgt, seine jüdische Herkunft, sein „Judesein“. Und wie er das auch zu inszenieren weiß: „Ich bin Jude, weil ich eines Tages merkte, wie sehr es mir gefällt, die anderen damit zu verwirren, dass ich Jude bin.“ Denn: „Jemand wie ich war in Deutschland nicht vorgesehen.“ Das ist ehrlich und provokant. Und da drängt sich beim Lesen dieses Porträts eines Schriftstellers als junger Mann zunächst der Gedanke auf, dass Biller eigentlich ganz gut davon lebt, jüdischer Herkunft zu sein. Dass er gar nicht erst groß nach Stoff für ein neues Buch suchen musste, dass er Jude qua Profession ist. Diesen Gedanken weiß Biller aber auf seine Art zu kontern. Da stolpert er über das Wort „Berufswahnsinniger“, mit dem ein, wie er weiß, schwuler und linker Journalist den jüdischen Kollegen Henryk Broder bezeichnet hat. „Das klingt wie Berufsjude“, so Biller: „Berufsjude kommt übrigens von Berufsjugendlicher, und das ist ein Wort, das älter ist, als man denkt. So nannte man in der Nazizeit die dreißigjährigen Funktionäre der Hitlerjugend.“
Die Nazis waren Biller aber 1982 noch ziemlich egal, auch weil er sich von ihnen – wie sein Vorbild, Philip Roth – Fantasie und Willen nicht beeinflussen lassen wollte. „Mein erster Fehler“, analysiert er. Ihn interessierte nur, „dass ich Jude war – und dass mein erster Roman deshalb nichts wurde, weil ich es mir selbst darin verschwieg.“ So wird Biller zunächst Journalist statt Schriftsteller. Er besucht die Journalistenschule, macht Praktika bei „FAZ“ und „Zeit“, wird berühmt mit der „100 Zeilen Hass“-Kolumne für das Zeitgeist-Magazin „Tempo“. Heute, schreibt er, ärgere es ihn, dass er statt Geschichten über Juden Artikel über die Deutschen schrieb, dass „ich als Deutschenhasser benutzt wurde“, dass er, auch des Geldes wegen, „gebrauchter Jude in Deutschland wurde“. Sein zweiter Fehler.
Durchaus auch lustvoll berichtet er sodann von den Erfahrungen, die er mit bewusst und unbewusst antisemitischen oder zumindest gedankenlosen Deutschen macht, mit Ausbildern, Bekannten oder Kollegen. Gezielt streut er Provokationen, etwa über all „die blonden Mädchen und Jungen“, die auf einem Schriftstellertreffen in Tutzing angeblich keine Lust hatten, mit ihm „über ihre Literatur, ihr Land, ihre Gefühle zu diskutieren“. Oder über die bei ihm immer blonden deutschen Mädchen, die irgendwann dann auch SS-Stiefel tragen.
Er scheut sich jedoch genauso wenig vor Selbstgeißelungen, Selbstbefragungen und alterstypischen Suchbewegungen jenseits der jüdischen Identität. Biller, auch das deutet sich an, leidet unter seiner Herkunft. Er will Jude, Mann und Schriftsteller sein, „weil ich es bin. Aber wie macht man das, wenn man wegen seines Kommunistenvaters nicht an Gott glaubt und aus Trotz gegen dessen späte zionistische Bekehrung nicht in Israel lebt?“ Seiner zwanghaft anmutenden Fixierung ist er sich nur zu bewusst, würde sie bisweilen gern loswerden, weiß aber um ihre Attraktivität.
Aus diesem Zwiespalt heraus speist sich das Besondere, die Wucht dieses „Selbstporträts“, das Züge eines Entwicklungsromans trägt. Nicht zuletzt kommt Biller oft auf seine Familie zu sprechen: auf den in Moskau geborenen Vater, „der als Jugendlicher an Lenin wie an einen Gott geglaubt hatte“, auf seine in Baku, Aserbeidschan, geborene Mutter, auf zwei Onkel, die in der Roten Armee kämpften und Prag von den Deutschen befreiten (weshalb der Vater ebenfalls später nach Prag kam).
Allein diese Familiengeschichte müsste Stoff für mehr als einen Roman hergeben – doch aus Maxim Biller ist kein Schriftsteller mit epischem Atem geworden. Seine bevorzugte, von ihm souverän beherrschte Disziplin ist die Kurzgeschichte. Auch dieses schmale Buch, das, wie der Klappentext suggeriert, „in schnellen, leichten Strichen hingeworfen“ wurde und 61 Kapitel hat, besticht gerade durch die ausgesucht kleine Form. Sie gewährt alle Freiheiten, und Anekdoten, Geschichten und Grübeleien lassen sich so aufs Beste miteinander vereinen. Biller vermag in ein paar Sätzen viel zu erzählen und auszusagen, das macht ihm kaum jemand nach – und wie nebenher porträtiert er mit tatsächlich „schnellen Strichen“, aber eindrücklich, seine Freunde Fredi Brodmann und Donny Gold oder den mit den Billers befreundeten Schriftsteller Gabriel Laub. Andere Höhepunkte sind die Treffen, die Biller mit Marcel Reich-Ranicki hat: 1984, als er für die Zeitung „Elaste“ arbeitet. Und 2008, als er Reich-Ranicki in Frankfurt besucht und beide sich unter anderem an das 84er-Interview erinnern: „Ich hielt Sie für einen jüdischen Antisemiten“, sagt Reich-Ranicki, woraufhin Biller sagt: „Und ich dachte, Sie sind ein Jude, der keiner sein will“. Und Reich-Ranickis Frau ergänzt: „Wie zwei alte, vergessene Emigranten in einem Nabokov-Roman.“
Ein fulminanter Wortwechsel, wobei es nichts zur Sache tut, ob dieser so stattfand oder ob Biller nachgeholfen hat. Beim Nachdenken über Reich-Ranicki kommt er trotz seiner Vorbehalte gegenüber dessen Liebe zur deutschen Literatur und Deutschland (minus Hitler, Goebbels Auschwitz, wie Biller anmerkt) zu dem Schluss, dass Reich-Ranicki sich „um sein Leben“ ins Leben hineingeschrieben hatte – und auch ihm selbst nichts anderes übrig bleiben würde: „Judesein war Schriftsteller sein, man musste es aber wollen.“
Maxim Biller hat es so gewollt, er hat seine Berufung gefunden, seinen Stoff. „Meine Geschichten haben sich seitdem oft verändert“, sagt er heute, „und der Wagen hinter mir wird immer voller, nicht leerer.“ Dass es nicht mehr für die Nobelpreisliga reicht, zeichnet sich zwar ab – dieses Selbstporträt aber ist bei allem Narzissmus, aller Verbocktheit, aller Freude am Austeilen und vielleicht gerade deswegen eines der aufrüttelndsten, bemerkenswertesten Bücher dieses Herbstes.
Maxim Biller:
Der gebrauchte Jude. Ein Selbstporträt.
Kiepenheuer &Witsch, Köln 2009. 174 Seiten, 16, 95 €.
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