Digitale Revolution: Das Internet und seine dunkle Seite
Die digitale Revolution wird von einer Reihe von Autoren zunehmend kritisch begleitet. Ein Überblick.
Längst werden auch die größten Liebhaber neuer Smartphones, schneller iPads und schlauer Fitness-Wearables von der Datenschutzlücke ihrer Leidenschaft gehört haben. Aber wie das so ist: Das Bewusstsein verändert nicht unbedingt das Sein , und so haben ganze Regalmeter kluger Bücher über die Datenkraken die im Netz gegebenen Möglichkeiten zur Ausforschung von Millionen Individuen nicht bremsen können. Die Leute googeln und whatsappen und wertschätzen Amazon, weil Datenschutzmängel keine Schmerzen verursachen und das Zuhausebeliefertwerden eine feine Sache ist. Die digitale Revolution ist nicht aufzuhalten – warum auch, bei all den Vorteilen, die sie bringt.
Sie analysieren das Moore’sche Gesetz
Inzwischen gibt es eine Menge Autoren, die es bei der Kritik an Datenkraken und hergebrachten Einzelhandelsstrukturen nicht belassen. Sie nehmen es mit der Revolution als ganzer auf. Entsprechend spannend lesen sich ihre Bücher, dann zumal, wenn die Autoren selbst Revolutionäre sind. Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee forschen an einer der Gralsburgen moderner Geistigkeit, am Massachusetts Institut of Technology. Ihr Buch „The Second Machine Age“ hat den Anspruch, die Folgen der Computerisierung von fast allem zu durchdringen.
Soweit man das als Nicht-Computer mitvollziehen kann, ist den beiden das gelungen. Brynjolfsson und McAfee untersuchen in fünfzehn gut verständlichen, mit zahllosen Beispielen anschaulich gemachten Kapiteln die Gesetzmäßigkeiten der digitalen Revolution. Wie vor Jahrzehnten der Historiker David Landes in seinem Buch „Der entfesselte Prometheus“ die Kräfte und den Verlauf der industriellen Revolution untersucht hat, analysieren Brynjolfsson und McAfee Phänomene wie das Moore’sche Gesetz (jährliche Verdoppelung der Rechnerleistung) oder die Wirkung der Computerrevolution auf heute schon Arme und heute schon Reiche. Sie lassen sich sogar auf Überlegungen zum größten Problem der Digitalisierung ein, auf das Thema „Künstliche Intelligenz“ – kurz gesagt, auf die Frage, ob irgendwann das Netz die Menschen beherrscht.
Der kriminelle Untergrund des Internet
Als pragmatische amerikanische Forscher sind Brynjolfsson und McAfee von der politischen Steuerbarkeit der digitalen Revolution überzeugt – ihr Buch ist eine einzige Werbung für: mitdenken statt zu verzagen. Sie regen, weil die Vereinigten Staaten mindestens so stark wie Europa unter dem Eindruck wirtschaftlicher Umwälzung stehen, ein neues Nachdenken über das bedingungslose Grundeinkommen an, über Möglichkeiten, dafür zu sorgen, „dass sich Kapitalerträge nicht zu sehr konzentrieren“ und regen Forschung an, die „auf neue Güter und Dienstleistungen, nicht auf die Einsparung von Arbeit“ gerichtet ist.
Neue Güter, neue Dienstleistungen und eine unbekannte Anzahl neuer Arbeitsplätze sind dem amerikanischen Autor Marc Goodman zufolge längst entstanden – im kriminellen Untergrund des Netzes. Noch so einer, der die Kunst beherrscht, abstrakte Zusammenhänge frisch und spannend wie im Krimi darzustellen. Goodmann ist (laut Klappentext) „Experte für Sicherheitsfragen“. Vor allem war er mal bei der Polizei und Terrorbekämpfer – und davon lebt sein Buch.
Der junge Mann hatte einen umfangreichen Drogenhandel organisiert
Goodman geht in heiterem Ton von zwei nicht zu bremsenden Entwicklungen aus. Erstens: Big Data wird uns alle, ob wir es merken oder nicht, ob wir es wollen oder nicht, mit jedem kommenden Jahr durchsichtiger machen, für den Staat und seine Sicherheitsbehörden, für große Unternehmen auf der Suche nach neuen, kapitalisierbaren Dienstleistungen, aber auch für die staatliche oder private Gesundheitsindustrie, die Versicherungen zum Beispiel. Zweitens: Das Netz, in und mit dem das alles passiert, war und ist angreifbar und verletzlich. Das gibt phantasiebegabten Kriminellen jede Menge neuer Möglichkeiten. Wer sich schon mal mit den tieferen Regionen des World Wide Web befasst hat – das sind die, die Google nicht erfasst –, der kennt etwa die Geschichte von Dread Pirate Roberts. Der junge Mann hatte mithilfe der Internet-Suchmaschine TOR, die die Adresse des Benutzers verschlüsselt, einen umfangreichen Drogenhandel organisiert.
Dass der Texaner trotzdem aufflog, war offenbar eine Folge ordentlicher Polizeiarbeit. Sein Beispiel ist für Marc Goodman allerdings nur eins, das zeigen soll, was man mit unternehmerischer Phantasie im Internet alles anstellen kann. Im „Darknet“, dem Untergrund des Netzes, werden Waffen gehandelt, Kreditkarten, Daten und Kinderpornografie. Kranken Phantasien sind offenbar keine Grenzen gesetzt: Folgt man Goodman, kommt es im Darknet zu Kinder-Vergewaltigungen, die weltweit in Realzeit übertragen werden.
Selbst wenn manch andere Beispiele für die hässlichen Möglichkeiten netzgestützter Kriminalität so wirken, also würden nur Leute darauf hineinfallen, die ihre Bankgeschäfte mit dem Smartphone in der U-Bahn erledigen: Goodman hat auch für Leute, die sich für kritische Nutzer halten, den passenden Fehler bereit, um sich angreifbar zu machen. Für Amerika fordert er ein „Manhattan-Projekt der Cybersicherheit“, also ein staatlich getragenes und forciertes Forschungsvorhaben zur Absicherung des Netzes und der digitalen Infrastruktur, vergleichbar der Entwicklung der Atombombe während des Zweiten Weltkriegs.
Analoges Denken in Europa
In Europa, ist zu fürchten, hat sich in der Politik allenfalls ansatzweise ein Gefühl für die Angreifbarkeit des Netzes ausgebreitet. Analoges Denken herrscht vor – gesteuert wird die Digitale Revolution eben vom Silicon Valley. Der in Hong Kong lebende Medienwissenschaftler Roberto Simanowski hat unser mangelndes Bewusstsein für die Missbrauchsmöglichkeiten der Web-Revolution 2014 auf den Begriff „Datenumweltkatastrophe“ gebracht. In seinem Essay „Data Love“ (erschienen bei Matthes und Seitz) macht er auf einen paradoxen Zusammenhang aufmerksam: Es sind die Älteren, die den sorglosen Umgang der „Digital Natives“ mit ihren Daten kritisieren – eben jene Älteren, die als Generation lange gebraucht haben, um Schlüsse aus der Umweltproblematik zu ziehen. „Man muss diese ,(Daten-)Katastrophe’ verstehen als Indikator eines gesellschaftlichen Mentalitätswechsels, der vor allem von den Digital Natives getragen wird“, heißt es in „Data Love“. Kaum zu sagen, wohin er führt; am Umgang mit dem Begriff „Umweltkatastrophe“, wie er seit den späten sechziger Jahren diskutiert wird, sieht man, wie lange Mentalitätswechsel brauchen, um erkennbar zu werden.
So gesehen ist der „Spiegel“-Reporter Thomas Schulz ein Zukunftsforscher: Er versucht, im Silicon Valley herauszufinden, wie Google tickt und welche Konstanten die von Google, Facebook, Amazon und anderen Netz-Giganten gemachte Revolution bestimmen. Schulz hält seine Leser nicht auf mit Verteufelungen, die heute Google gelten und morgen womöglich anderen Start-up-Explosionen. An vielen Beispielen und über Portraits der Netz-Revolutionäre bei Google zeigt er die wohl stärkste Kraft der Netzrevolution: Es sind nicht mehr die Philosophen oder Polit-Utopisten, die diese Revolution vorantreiben, es sind die Ingenieure: Und die sind überzeugt von der Optimierbarkeit von allem. Und allen.
Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee: The Second Machine Age. Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird. Übersetzt von Petra Pyka. Plassen Verlag, Kulmbach 2015. 367 Seiten, 24,99 Euro.
Marc Goodman: Global Hack. Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Kathleen Mallet und Karin Miedler. Hanser Verlag, München 2015. 552 Seiten, 24,90 Euro.
Thomas Schulz: Was Google wirklich will. Wie der einflussreichste Konzern der Welt unsere Zukunft verändert. DVA, München 2015, 335 Seiten, 19,99 Euro.