Frankfurter Buchmesse: Das Ende Israels
Der Polit-Thriller „Das Recht auf Rückkehr“ des holländisch-jüdischen Autors Leon de Winter ist eine Kopfnuss: hart, anregend, provozierend. Es spielt im Jahr 2024, Israel ist demografisch untergegangen.
Das ist auf 550 Seiten ein Thriller, der höchst spannend und höchst unterhaltsam geschrieben ist. Also ein Genre, das gerade von den deutschen Kritikern oft in einer Mischung aus Argwohn und stillem Neid behandelt wird. Man hat es gerade wieder bei Frank Schätzings neuem Roman „Limit“ beobachten können, der schon eine Woche nach Erscheinen auf Platz eins der Bestsellerlisten steht. Auch Leon de Winter ist so ein Grenzfall zwischen „E“ und „U“, obwohl sein Werk immer wieder auch mit den schattenhaften Folgen des Holocaust spielt. Darum gilt es zugleich als seriöses Spiel, und der holländisch-jüdische Autor de Winter treibt, um es mit einem Begriff des alten Goethe zu sagen, nur ein paar „ernste Scherze“.
Sein neuer Roman „Das Recht auf Rückkehr“ handelt in der Zukunft: Tel Aviv im Frühjahr 2024. Der Staat Israel ist „zu einem Stadtstaat von der Fläche Groß-Tel-Avivs plus einem Sandkasten geschrumpft“: ohne die Negevwüste, ohne Haifa und Jerusalem, das inzwischen die Hauptstadt der „palästinensischen Araber“ ist, deren „Gebärmütter“, wie de Winter fast sarrazinisch schreibt, den Judenstaat „besiegt“ haben.
Nur noch Fassade und Erinnerung
Aus Israels real drohendem demografischen Untergang macht Leon de Winter eine beklemmende fiktionale Wirklichkeit. Sein Held Bram (Abraham) Mannheim, ein so vitaler wie tragisch umflorter Mittfünfziger, agiert in einem Tel Aviv, dessen goldene Jugend und dessen ökonomischer Mittelstand das Land längst verlassen hat. Die großen Hotels, Cafés und Clubs am Meer, dort, wo sich einst Tel Avivs Amüsiermeile befand, sind nur noch Fassade und Erinnerung, die Älteren und Alten haben neben einer die Ödnis mit Hightech, Idealismus und Zynismus verteidigenden Kerntruppe aus Armee, Wissenschaft und Geheimdienst die Macht übernommen. Das gesamte Restland ist kameraüberwacht, von Mauern abgeriegelt, durch die nur Schleusen führen mit Gen-Scannern, die Juden von Nichtjuden unterscheiden, in einer Mischung aus ethnischem Rassismus und biotechnisch plausibler Science-Fiction. Nicht nur deswegen haben sich in Israel und auch der übrigen Welt die scheinbar zusammenhanglosen, zeitlich und örtlich weit verstreuten Fälle gehäuft, dass Kleinkinder von jüdischen Eltern plötzlich spurlos verschwinden. Denn das ist Leon de Winters ingeniös gruseliger Einfall, der sich dem Leser erst allmählich enthüllt: Islamistische Kreise, deren Einfluss von heute bis morgen stark gewachsen ist, entführen Jungen und Mädchen „nach drüben“, wie die Israelis sagen, um aus ihnen über Jahre der kulturellen und religiösen Umerziehung Terroristen und Selbstmordattentäter zu machen. Sozusagen Muslime in einer genetischen Maske.
Polen ist zu einer wirtschaftlichen Führungsmacht der EU geworden
Das klingt in der Verkürzung versponnener, als es Leon de Winter mit vielen verblüffenden Details in einem Roman erzählt, der mit nicht unrealistischen Visionen spielt und aus der Gegenwart eine Zukunft schöpft, in der sich auch in Europa die Gewichte stark verändert haben. Da gewinnt ein Verein wie Legia Warschau die Fußball-Champions-League, da ist Polen zu einer wirtschaftlichen Führungsmacht der EU geworden, und da regiert in Russland ein 75-jähriger Wladimir Putin ein autoritär geführtes Wohlstandsland, aus dem die Juden nicht mehr emigrieren, sondern in das im Gegenteil bereits 200 000 Israelis eingewandert sind und das begehrt wird wie einst Amerika.
Schon der Buchtitel „Das Recht auf Rückkehr“ wirkt so mehrsinnig. Er trifft Juden und Palästinenser – aber auch Bram Mannheim und seine Familie. Er wurde zum Migranten wie sein Vater, ein Schoah-Überlebender, Biochemiker und späterer Nobelpreisträger, der von Holland nach Israel ging. Auch Bram, aufgewachsen in Amsterdam, ist ein (ehemaliger) Wissenschaftsstar, war Historiker, schrieb und stritt für den politischen Ausgleich zwischen Israelis und Palästinensern und ging als Professor von Tel Aviv nach Princeton.
Dort kauft er ein riesiges altes Spukhaus, plötzlich verschwindet auf dem noch baufälligen Anwesen sein vierjähriger Sohn, darüber zerbricht Bram Mannheims Ehe mit Rachel, einer jüdisch-indischen Schönheit, die zudem ein halber Bollywoodstar ist. Bram begeht darauf einen vermeintlichen Rachemord – in allen blutigen Einzelheiten und zugleich psychologischen Raffinessen ist das ein Höhepunkt des Buchs. Und als manisch Besessener, einer Figur eher von Paul Auster gleichend, streift er bis Los Angeles durch den Kontinent, mittlerweile obdachlos, auf der Suche nach seinem Sohn von genial verrückten, mathematisch kabbalistischen Zahlenspielen getrieben, bei denen das Datum, an dem sein Sohn verschwand, nebst vielem anderen eine magische Rolle spielt. Leon de Winter erzählt das mit glänzend gesetzten Schnitten, Rückblenden ins Jahr 2008 und auf mehreren motivischen und zeitlichen Ebenen. Personen und Geschehnisse geraten über Kontinente und Jahrzehnte hinweg in überraschende Beziehungen. Manchmal liest man dabei schon die Verfilmung im Kopf, spürbar ist Leon de Winters filmische Ausbildung und seine Liebe zu Hollywood (er lebt dort einen Teil des Jahres).
Der Friede ist auch in dieser Welt nicht mehr als eine Utopie
Bram, der in dramatischen Szenen immer wieder in Unfälle und Attentate gerät und, nach dem verrückten Professor, selber in eine zweite Existenz gerettet wird als Lebensretter einer israelischen Hilfsorganisation, Bram wird undercover in eine kasachische Islamistenrepublik reisen und zurück nach Amsterdam und Tel Aviv, um dann vielleicht in Moskau mit einer neuen Liebe und in einer familiären Wendung, die wir nicht vorab verraten wollen, ein drittes Leben zu beginnen. Der Friede ist da eine schöne Utopie in einer Welt der Terroristen und Fundamentalisten, auf beiden Seiten des israelisch-palästinensischen oder neuen west-östlichen, säkular-religiösen Konflikts.
Manches erscheint in der weitgreifend feinmaschigen Komposition ein bisschen konstruiert, das kommt im Ton dann etwas aufgesagt und ausgestellt daher. Auch sind einige Sexszenen eher routiniert als poetisch geschrieben, und die sonst vorzügliche deutsche Übersetzung hat ein paar kleinere Macken (etwas „kommt“ nicht, sondern „geht“ in Ordnung, und im Deutschen ist nicht alles, was alt ist, schon „antik“). Und im Übrigen blieb bei de Winters präzisen Datumszahlenspielen offenbar unbemerkt, dass zwischen dem 28. August und dem 2. September kaum „zwei Wochen“ liegen können. Aber das sind eigentlich Kleinigkeiten. Das ganze Buch ist dagegen eine Kopfnuss: hart, anregend, provozierend. Und zugleich so eingängig verführerisch wie eben nur ein guter Thriller.
- Leon de Winter: Das Recht auf Rückkehr. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 2009. 551 S., 22,90 €.
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