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Sven Regener
© ddp

Regener-Roman "Kleiner Bruder": Da kommt gleich die Abfahrt

West-Berlin für Nachzügler: Sven Regener schließt mit "Der kleine Bruder" seine Herr-Lehmann-Romantrilogie ab.

Der Einstieg dieses neuen, den Abschluss der Lehmann-Trilogie bildenden Romans von Sven Regener ist perfekt. Denn eine Geschichte, die 1980 in West-Berlin spielt, muss einfach auf dem Weg dorthin beginnen, auf dem so genannten Transit durch die DDR. Zweimal gab es hier für die Westdeutschen Grenz- und Gesichtskontrollen, hier durften sie nicht schneller als hundert fahren, und hier konnten sie zumindest von Auto zu Auto und in den Intershops die Brüder und Schwestern aus dem Osten einmal aus der Nähe betrachten und eine Ahnung von deren DDR-Dasein bekommen.

Die Erfahrungen auf der Transitstrecke bildeten gewissermaßen den Humus, auf dem typische West-Berliner Lebensgefühle gedeihten, von notorischen Verdruckstheiten bis zu dem eigentümlichen Stolz, einem besonders seltsamen und fremden Menschenschlag anzugehören. Und so steuert im ersten Kapitel von Regeners Roman „Der kleine Bruder“ Frank Lehmann den Opel Kadett seines auf dem Beifahrersitz hockenden Freundes Wolli über die novembernachtdunkle Transitstrecke und wundert sich. Etwa warum der Wolli so ruhig geworden ist, nachdem er zwischen Bremen und Helmstedt unentwegt geredet hatte, und warum er schließlich nur noch nervös Sätze stammelt wie: „Da kommt gleich die Abfahrt, da kommt gleich die Abfahrt, bloß nicht überholen, da musst du aufpassen, so ein Schild mit ,Transit Westberlin’, das darfst du auf keinen Fall verpassen.“

Sie schaffen es, wohlbehalten anzukommen, und in Folge erzählt Regener in einer Art szenischen Nummernrevue die zwei ersten Tage und vor allem Nächte im Westberliner Leben des Frank Lehmann, das in seinen letzten Zügen bis zur Wende ja schon aus Regeners Debüt „Herr Lehmann“ bekannt ist. „Der kleine Bruder“ als letzter Teil der Trilogie fungiert nun als Scharnier, das den dickleibigen zweiten Bremen-und-Bundeswehr-Roman „Neue Vahr Süd“ zeitlich direkt fortsetzt und schildert, wie Frank Lehmann in Berlin wurde, was er 1989 ist: ein mit seinem Kreuzberger Dasein durchaus zufriedener Barkeeper und Beck’s-Bier-Öffner, der manchmal erstaunt, manchmal genervt, manchmal gelassen den ihn umgebenden Bohéme-Trouble an sich abperlen lässt. So erfährt man nun, da Frank Lehmann das gesamte Buch über auf der Suche nach seinem großen Bruder ist, wie er eher aus Zufall dazukommt, Bier auszugeben: bei einem Punk-Konzert, wo der eigentliche Bierverkäufer von einer herumfliegenden Büchse außer Gefecht gesetzt wird. Perfektionieren kann Lehmann das Ganze schließlich einen Abend später mit Gläsereinsammeln und Tische- und Thekewischen während einer Performance in einer Bar in der Wienerstraße.

Es gibt dann in diesem Roman die Plenumsszene in der WG, die (wirklich großartige) Szene beim Griechen, die auf Partysuche in der Pfuelstraße, die im besetzen Haus, die in der Galerie usw, und all diese Szenen bestehen größtenteils aus Dialogen, die Regener aus dem Effeff beherrscht: oft bewusst schnoddrig daneben, gewollt redundant, mit dem Gespür dafür, wie die Jungs und Mädchen in den szenistischen Kneipen- und Kunstkreisen seinerzeit so daher geredet haben.

Das ist lustig, das ist zuweilen besser als zum Beispiel die vielen oft öden, nichtssagenden Dialoge in Ingo Schulzes Roman „Adam und Evelyn“, und das liest sich schon fast wie direkt auf eine Verfilmung hingeschrieben. Und das täuscht doch nicht darüber hinweg, dass „Der kleine Bruder“ nicht mehr als der lang angekündigte Nachzügler von „Herr Lehmann“ und „Neue Vahr Süd“ ist und gerade im Vergleich zum eher epischen „Neue Vahr Süd“ der schwächere Roman, gerade zum Ende hin, da Regener die Einfälle etwas ausgehen und er den Sack vor allem zumachen musste. Lesen lässt sich „Der kleine Bruder“ gleichermaßen als Lehmann-Roman, dessen Hauptfigur genauso in Münster Barkeeper und Beck’s-Bier-Öffner sein könnte, und als Frühachtziger-Kreuzberg-Szene-Roman. Denn Regener kennt seine Pappenheimer. Überall, wo sein Held auftaucht oder mit hingeschleppt wird, läuft Punk, gibt es Performances, wird Kunst gemacht, wird gelesen, wird gesoffen.

Wer sich ausverkauft, wer noch Hippie ist, wie die rauch- und teegeschwängerten Siebziger nachwirken, auch politisch, wer coole alte Anzüge trägt, ja, selbst wie sich die nuller Jahre schon ankündigen, als ein künstlernder Hauserbe sein Haus medienbewusst und erfolgsorientiert als besetztes ausgibt – das bietet dieser Roman auch. Und eben Herrn Lehmann, diesen modernen working class hero, diesen Liegenbleiber, diesen ach so sympathisch unambitionierten Menschen, der sich so ideal als Projektionsfläche für alle eignet. Einer von uns, keiner von uns.

Sven Regener: Der kleine Bruder. Roman. Eichborn Berlin 2008. 284 S., 19 € 95

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