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© David von Becker / Verein der Freunde

Nationalgalerie: Bitte betreten!

Der Maler Rudolf Stingel verlegt einen Teppich in der Neuen Nationalgalerie

Fast hat man sich daran gewöhnt, dass es auf Berlins Straßen und Bürgersteigen ständig auf und ab geht über verkrustete Eisflächen. Auch daran, dass der Bodenbelag nicht mehr asphaltfarben erscheint, sondern schneematschgrau. Doch nun setzen sich die verstörten Gehgefühle auch im Gebäudeinneren fort. Nicht die Natur, sondern ein Künstler hat für eine Transformation des Bodens im Mies-van-der-Rohe-Bau gesorgt. Sogar in vergleichbarer Farbgebung: im Grisailleton. Allerdings nicht hart und rutschig, sondern flauschig weich.

Die gesamte Fläche der gläsernen Halle ist mit einem Teppich ausgelegt, dessen Muster auf einen indischen AgraTeppich des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Florale und geometrische Motive wechseln in überdimensionierter Form einander ab. Plötzlich kehrt in diesen Weihetempel der Kunst, diese kühle Ikone des modernen Bauens die Behaglichkeit eines bürgerlichen Wohnzimmers ein. Wie zur Betonung dieses Wandlungsprozesses hängt von der Decke ein Kronleuchter herab, der ein warmes Licht verbreitet. Dem Künstler Rudolf Stingel ist ein echter Coup gelungen, der nur zufällig mit den widrigen Wegeverhältnissen rundum korrespondiert. Umso effektvoller gestaltet sich die spannungsreiche Auseinandersetzung mit dem Innenraum. So hat man Mies van der Rohes letztes Werk wahrhaftig noch nicht erlebt.

Vermutlich hätte dieser vorübergehende Anschlag auf seine Ästhetik der reinen Geraden dem Baumeister sogar gefallen. Denn der Architekt hat selbst von sich gesagt, dass er das Dekorative bis zum Extrem vorangetrieben habe. Dank Rudolf Stingel erkennt man nun, was er damit meint: Nie sahen die beiden Heizungskerne mit ihrer Verkleidung aus grünem Granit, nie das rötliche Holz der beiden, frei in den Raum gestellten Garderoben ästhetischer aus. Interior Designer müssten begeistert sein. Und was bisher unvorstellbar schien: Am liebsten würde man sich auf den Boden legen, fläzen, rollen, räkeln. Spätestens die Kinder werden es tun. Die sonst mit Kunst so schwer zu bespielende transparente Halle erweist sich als höchst wandelbare Box, wenn man denn die ihr eingeschriebenen Regeln versteht. Anders als viele seiner Erben hatte Mies van der Rohe ein entspanntes Verhältnis dazu. Ursprünglich war sein Entwurf als Firmenzentrale für Baccardi in Santiago de Cuba gedacht. Als daraus nichts wurde, widmete er den Bau eben in ein Museum in Deutschland um.

Auch Rudolf Stingel ist auf seine Art ein Meister der Translozierungen. Während er im Erdgeschoss der Nationalgalerie den Besucher auf einen Teppich setzt und zumindest dessen Fantasie fliegen lässt, präsentiert er unten im ersten Ausstellungssaal vier großformatige Gemälde, mit denen er eine weitere Reise in Zeit und Raum antritt. Als Vorlage für seine ebenfalls in Grisaille gehaltenen Bilder dienten ihm vier historische Fotografien. Eine Aufnahme stammt von Ernst Ludwig Kirchner von der Stafelalp, wohin der Brücke-Künstler sich nach seinem Nervenzusammenbruch im Ersten Weltkrieg zurückgezogen hatte und bis zu seinem Freitod 1938 geblieben war. Die drei anderen Bilder nahm Stingels Vater in den fünfziger Jahren in Davos bei Bergtouren auf, prachtvolle schneebedeckte Panoramen. Das Wetter draußen spielt schon wieder herein.

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Wenn Mies von der Rohe das wüsste. Die gläserne Halle wird zum Boudoir. -
© David von Becker / Verein der Freunde der Nationalgalerie

Der Künstler hat diese Aufnahmen akkurat in Öl übertragen, jeden Pinselstrich einzeln gesetzt; man denkt an Gerhard Richter und Franz Gertsch, die ebenfalls hyperrealistisch nach Fotos malen. Doch Stingel interessiert der Moment dazwischen, die Aufnahme selbst. In seinen Bildern finden sich Staubpartikel, Lichtpunkte, Knickspuren und jener berühmte Fingerabdruck Kirchners, der auf allen Reproduktionen auftaucht, da der Maler die gläserne Fotoplatte berührte.Der Heldensaal der Nationalgalerie bekommt tatsächlich etwas Heroisches. Die gewaltigen Berge, das tragische Schicksal Kirchners, das an die Verfolgung der Moderne durch die Nationalsozialisten erinnert – das lässt niemanden kalt. Stingel knüpft dort an, wo auch die Brücke-Künstler standen – bei der Malerei. Pinsel, Leinwand sind das eine, doch das Bild verbreitet sich in jeglicher Form.

Auch der Teppich in der oberen Halle gilt Stingel als Malerei, nur in einem anderen Medium. Mit seiner Erweiterung der Materialien geht der Künstler sogar so weit, dass er andere am Entstehungsprozess beteiligt. Jeder Fußtritt, jede hinterlassene Spur gehört zum Werk. Der Berliner Winter wird seinen eigenen Beitrag leisten. Für reichlich Streusand, der von draußen hereingetragen wird, ist gesorgt. Manche Wege kreuzen sich eben.

Neue Nationalgalerie, Potsdamer Str. 50, bis 24. Mai.

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